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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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genießen. Er hatte ein Zimmer, in dem er ein paar Dinge unterbrachte und manchmal auch sich. Seine Wirtin besorgte die Wäsche für ihn, und oftmals suchte er diese Räumlichkeit nur auf, damit er seine Kleider wechseln konnte. Er schlief wenig. Er aß, um satt zu werden, und manchmal vergaß er selbst das. Seit er seine Arbeit tat, war er zu der Überzeugung gekommen, dass nichts weniger von Belang war als sein persönliches Befinden.
    Ihn verwunderte gar nicht einmal so sehr, dass Professor Kilian in diesen Dingen anders verfuhr und im Besitz einer privaten Seite war. Oder dass er einen dezenten Geschmack besaß, der seiner Arroganz widersprach.
    Am meisten überraschte Clemens, wie sehr er es tatsächlich genoss, noch immer hier zu sitzen. In einem weichen Sessel, vor einem prasselnden Kaminfeuer, das ein so freundliches Licht machte, es war merkwürdig. Es lag auf der Hand, dass der Professor ihn mit etwas ganz anderem in diese verwirrende Stimmung versetzt hatte.
    »Was halten Sie davon, Herr Kollege?«, fragte Kilian und schenkte ihm Wein nach.
    Clemens hob sein Glas dem Gastgeber entgegen.
    »Wie könnte ich anders, als es aus vollem Herzen gutzuheißen?«, sagte er. »Ich hoffe sehr, dass der Landgraf sich Ihrem Ansinnen öffnen kann, es …«
    »Unserem Ansinnen, mein lieber Freund.« Kilian berührte kurz Clemens’ Schulter, bevor er sich in dem Sessel ihm gegenüber niederließ. »Es ist doch so, dass wir ein gemeinsames Ziel verfolgen, oder sollte sich das inzwischen geändert haben?« Mit schief gelegtem Kopf musterte er Clemens und lächelte dann. »Nein, nein, entrüsten Sie sich nicht – ich weiß doch, wie sehr Ihnen Ihre Arbeit am Herzen liegt. Ihre Forschungen …«
    »Eben nicht nur die Arbeit, nicht allein die Forschung … Verzeihen Sie, dass ich Ihnen ins Wort falle.« Clemens beugte sich so heftig vor, dass der Wein im Glas in Bewegung geriet. »Ich gestehe, dass ich das Elend, dem wir begegnen, zuweilen unerträglich finde und dass wir aus der Not dieser armen Weiber unsere Wissenschaft bedienen …«
    »Gestehen Sie auch, dass Sie mich mitunter zu den kaltherzigen Vertretern dieser Wissenschaft zählen?«
    »Verehrter Herr Professor, ich weiß nicht …« Nein, er wusste nicht. Aber sollte er etwas abstreiten, worüber er tatsächlich nicht nachgedacht hatte?
    »Hören Sie«, sagte Kilian und legte eine Hand auf Clemens’ Arm. »Entschuldigen Sie meinen sarkastischen Einwurf. Ich denke, wir haben es weder nötig, einander zu bezichtigen, noch mit Lob zu überschütten. Ich bin mir sicher, dass ein jeder die Qualitäten des anderen einzuschätzen weiß, dafür arbeiten wir schon lange genug miteinander. Nichts nährt die Liebe für eine Wissenschaft so sehr wie das gemeinschaftliche Interesse, nicht wahr.« Er lehnte sich wieder zurück und schlug die kurzen Beine übereinander. »Und selbstverständlich läuft es mir zuwider, sehen zu müssen, mit wie viel Schrecken sich diese armen Weiber unserer Exploratio unterziehen. Nur, weil sie nicht verstehen können, dass es zu ihrem besseren Geschick ist.«
    »Wie sollen sie denn auch Vertrauen in uns entwickeln? Sie müssen es als Bestrafung erleben …«
    »Sehen Sie, mein Lieber, und das ist es, wo wir ansetzen können, wenn der Landgraf meinem Vorschlag folgt.«
    »Das setzt immerhin einen gewissen Reformwillen voraus.«
    »Ach, wissen Sie, ich habe mir in meinem Schreiben gestattet, darauf hinzuweisen, dass es für unser Land doch auch an der Zeit sei, die Erbärmlichkeit gewisser Zustände abzuschaffen, nachdem man in Preußen schon vor über dreißig Jahren damit begonnen hat. Und wenn wir tatsächlich erreichen, dass man auch hier den ehelosen Schwangeren die Unzuchtstrafen und die Kirchenbuße erlässt – natürlich nur, sofern sie sich zur Geburt in unser Institut begeben -, dann wird … dann muss es die Frauen dazu bringen, unsere Hilfe zu suchen!«
    Clemens nickte wortlos. Er sah eine leichte Röte aus dem hohen Kragen des Professors aufsteigen. Möglicherweise war nur der Schimmer des Kaminfeuers dafür verantwortlich, Clemens aber schrieb es dem Enthusiasmus dieses Mannes zu, dessen Stimme sich mit den letzten Worten deutlich erhoben hatte.
    »Ich brauche Ihnen nicht erklären, dass wir für unsere Wissenschaft eine ganz andere Situation schaffen müssen. Was haben wir denn schon: Die Frauen kommen nur, wenn ihnen die Not keine andere Wahl lässt. Oft sind sie schon in den Wehen. Nicht ohne Gefahren für sie, viel zu spät für

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