Die Hebamme
Absturz. Er freute sich an ihrem schrillen Zetern, wenn sie unbeholfen aufflogen. Amseln hatte Pauli schon im Flug erwischt.
Was immer die Textor sich dachte, wann immer sie ihm seitdem nachstierte und ihre versoffene Laune an ihm ausließ, Pauli war es nur recht, dass sie ihn weiter Blödkopf nannte. Jedes Mal – auch wenn es für seinen Geschmack zu selten war -, wenn er wieder ein paar Heller unterzubringen hatte, wenn seine Finger das Versteck ertasteten und er feststellte, dass es unberührt war, dann hatte er Gewissheit. Dann gab es keinen Zweifel daran, wer von ihnen beiden dümmer war.
Paulis Hand fuhr hoch zu seinem Gesicht, zu den frischen Pusteln, die irgendwann in dieser Nacht entstanden sein mussten. Sie quälten ihn mit einem juckenden Schmerz, und es würde noch viel schlimmer werden, wenn er sie aufquetschte. Aber für einen kurzen Moment befriedigte es ihn immer, wenn er das, was daraus hervorplatzte, zwischen den Fingern spüren konnte. Die Neue, Gesa, sagte, er sollte das lassen, weil es Narben gab. Viele Narben in so einem netten Gesicht. Das hatte sie wirklich gesagt.
Pauli wandte sich um, als er die abgehackten Vogelrufe hörte, die er von allen anderen zu unterscheiden wusste. In den unbelaubten Zweigen waren die Amseln ein einfaches Ziel.
Die Frau, die von niemandem in den vergangenen Stunden mit ihrem Namen angesprochen worden war, hatte endlich die Besinnung verloren. Franziska Sulzmann, deren Initialen sich über den Protokollen der angehenden Ärzte und im Buch des Professors befanden, wurde im Laufe der unterschiedlichen Traktionen der Einfachheit halber als die Patientin bezeichnet, variierend als die Schwangere .
Einleitend war festzuhalten, dass man eine schiefe Person schlanken Wuchses mit besonders kurzen unteren Extremitäten vor sich hatte. Ihr Alter gab sie mit zweiunddreißig an. Auffallend war ein hinkender Gang, und es ließ sich von ihr erfahren, dass sie in ihrer früheren Jugend an einer bedeutenden Rachitis gelitten haben musste, erst im späten Kindesalter von sieben hatte sie das Laufen erlernt. Mit neunundzwanzig Jahren hatte sie unehelich einen noch lebenden Knaben geboren. Es handelte sich um eine schwierige, jedoch ohne eigentliche Kunstgriffe beendigte Geburt. Es sollte nicht ohne Erwähnung bleiben, dass sie mit einsetzenden Wehen den Weg von ihrer Heimat zur Entbindungsanstalt auf einem hart stoßenden Fuhrwerk und in einem Tagesmarsch zurückgelegt hatte, wobei sie abends spät in Marburg angekommen war. Professor Kilian und Doktor Heuser hatten die Schwangere mit heftigen Kreuzschmerzen angetroffen. Das Wasser war abgeflossen und der Muttermund etwa zwei Zoll eröffnet. Die Kindslage musste als ungünstig bezeichnet werden.
Alles in allem ein Fall, der sich vorzüglich für Explorationsübungen eignete. Jeder der anwesenden Studenten hatte unter Anleitung des Professors Gelegenheit, den Tastbefund zu bestätigen. Unter der Exploration hatte wie üblich ein jeder laut zu referieren.
Der Kopf des Kindes war quer in die obere Öffnung des kleinen Beckens eingetrieben. In ihren Protokollen vermerkten die Praktikanten, was Doktor Heuser bereits im Gebaren der Schwangeren erahnt hatte und was auch deren Vorgeschichte nahe legte: ein verengtes Becken. Die Vermessung sollte seine Vermutung bestätigen.
Professor Kilian hatte die Schwangere zunächst eine stehende Position einnehmen lassen, um die schiefe Hüfte und die Neigung des Beckens demonstrieren zu können. Hierbei war an der Person bereits eine gewisse Ermüdung zu bemerken. Zudem klagte sie anhaltend über Kreuzschmerzen und musste von den Hebammenschülerinnen schwer gestützt werden. Die Haushebamme hatte unter dem unruhigen Benehmen der Patientin Schwierigkeiten, deren Kleider in Leistenhöhe hochzuhalten.
Die Praktikanten waren der Reihe nach aufgefordert, den Tasterzirkel anzulegen, um die äußeren Maße zu ermitteln und zu notieren. Dabei durfte festgestellt werden, dass die Schwierigkeit im Fixieren der Messpunkte an Schamfuge und Kreuzbein nicht ausschließlich an der Unerfahrenheit der eifrig bemühten Studenten lag. Mit diesem wohl durchdachten Lehrversuch hatte man den angehenden Ärzten lediglich die Unsicherheit dieses Verfahrens und seiner Ergebnisse vermittelt. Doktor Heuser wies darauf hin, dass in der Praxis unter dem Fortgang einer Geburt eine solche äußere Messung ohne diagnostischen Belang sei.
Unterdessen fiel an der Patientin ein unbeherrschtes Zucken in den Beinen auf, das
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