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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cantz Kerstin
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wusste auch von dem Raum im Keller des Gebärhauses – schließlich schlief er unweit davon.
    Einmal im Winter, nach seinen ersten Tagen als Hausknecht, weckte ihn nachts der Hunger, weil es außer einer sauren Brotsuppe nichts gegeben hatte. Noch während er schlaftrunken darüber nachdachte, ob es sich lohnte, oben in der Küche nach Essbarem zu suchen, hatte er Geräusche gehört. Er glaubte, den Atem anhalten zu müssen, lauschte auf Bewegungen und Schritte, die sich entfernten. Dann wagte er es, seine Schlafstelle im Holzraum zu verlassen. Er hatte die Hand vor Augen nicht sehen können, so dunkel war es gewesen. Da unten konnte man nie wissen, ob oben schon Tag war. Seine Geschicklichkeit im Feuerschlagen war ihm zugute gekommen und dass sich die Laterne stets neben seinem Bett befand. So hatte er noch etwas gewartet in der kellerfeuchten Kälte, bis das Klappen der Türen im Haus nach unten drang. Dann war er in den Raum gegangen und hatte das Bündel auf dem Tisch entdeckt.
    Es war in nasse Tücher gewickelt, und als er sie vorsichtig anhob, sah er ein neugeborenes Kind. Es war unversehrt und hatte eine bläuliche Hautfarbe, es machte ihm keine Angst. Pauli hatte schon tote Kinder gesehen, wie jeder auf dieser Welt, der Vater und Mutter hatte, nur war es ihm noch nie möglich gewesen, sie so genau zu betrachten. Es hatte die Augen geschlossen, und er konnte die dünnen blauen Linien in den Lidern sehen. Er hatte es sogar angefasst. Kalt und weich, ganz glatt. Die Nabelschnur, die über dem kleinen, eingefallenen Bauch lag, beunruhigte ihn zunächst etwas, und auf dem Tuch gab es eine blutige Stelle. Er hatte es wieder zugedeckt. Als er später am Tag nach ihm schaute, war es verschwunden.
    In der Nacht darauf war es wieder da, und er nannte es im Stillen ein Ellerchen, eine kleine Elfe, weil seine Haut so weiß war, fast silbern. In der dritten begann es schon schlecht zu riechen, und bereits zwei Nächte später stank es erbärmlich. Im Laufe des folgenden Tages war der Professor in dem Raum beschäftigt gewesen, und von da an hatte es nicht mehr dort gelegen. Wenn Pauli Brennholz zum Ofen ins Auditorium schleppte, schaute er zu den Gläsern im Schrank und dachte, in einem von ihnen sitzt vielleicht das Ellerchen und winkt ihm zu. Aber so richtig glaubte er nicht daran.
    Die Morgensonne stach ihm in die Augen, sodass Pauli den Kopf senken musste. Er trat ein paar kleine Steine vor sich her, bohrte die Hände in die Hosentaschen und umschloss die Münzen, die er heute bekommen hatte. Für seinen Geschmack konnte es ruhig öfter vorkommen, dass man ihn losschickte. Die jungen Herren neckten ihn zwar wegen seiner störrischen roten Haare und auch wegen seiner Pusteln, doch ihre Bemerkungen störten ihn nicht. Vielleicht sah er ja wirklich manchmal so aus, als würde ihm der Kopf brennen. Was die Studenten sagten, ließ Pauli kalt. Noch nie hatte einer versäumt, ihn zu bezahlen, das war ihm viel wichtiger.
    Er hoffte, dass alle, die dort zu tun hatten, im Auditorium waren, wenn er zurückkommen würde, vor allem die Textor. Er hatte sie in der Nacht gar nicht zu Gesicht gekriegt und war heilfroh darüber gewesen, ohne sich zu wundern. Wenn eine Geburt im Gange war, musste die Textor mit Hand anlegen, und dann würde er das Geld an seinen Platz bringen. Er machte das schon lange so, genau seit dem Tag, als die Alte ihn in der Küche so misstrauisch angeglotzt hatte mit ihrem Ziegenblick.
    »Was hast du denn da in den Taschen, Blödkopf?«
    »Steine.« Er hatte nicht gezögert, die Antwort kam ganz von allein aus ihm heraus. Sein Glück war, dass er wirklich welche in der Tasche hatte und sie ihr zeigen konnte.
    Die Alte machte ein Geräusch mit den Lippen, so, wie sie es immer tat, wenn ihr was nicht passte, und dann hatte sie noch ein bisschen komisch geguckt.
    »Wenn du dich im Fluss ersäufen willst, musst du dir schon was mehr in die Tasche stecken.« Wenn die Textor lachte, war das schlecht auszuhalten. »Dann sammle mal schön, Blödkopf. Schade um dich ist es ja nun beileibe nicht.«
    Er hatte die Steine in den Händen bewegt, dass sie aneinander klickerten, und am liebsten hätte er sie ihr ins Gesicht geworfen. Einer von den größeren hätte sogar gereicht. Er traf nämlich gut.
    Noch im letzten Sommer war er mit den anderen Jungen in Weidenhausen auf Vogeljagd gegangen. Amseln erwischte er nicht nur, wenn sie über die Erde hüpften, er scheuchte sie aus den Bäumen und brachte ihre Nester zum

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