Die Heidehexe - Historischer Roman
Vater zu, ergriffen seine Hände. Zu spät. Mit einem letzten Seufzer übergab die Seele des Grafen den Körper dem Tod.
Gegen Abend taute der Schnee. Die sinkende Abendsonne rieb die Erde wie mit einem Staubtuch trocken und kein Lüftchen regte sich zwischen Bäumen und Sträuchern. Wären nicht Alwin und die immer noch aufgeregte Menschentraube Zeugen des Naturereignisses gewesen, hätte Victor den Teufelsritt durch Sturm und Schneegestöber als Hirngespinst abgetan. So aber hing er, gleich seinem Bruder, in Gedankenseilen, die den Zwischenfall nicht zuordnen konnten.
Endlich kam er zu dem Ergebnis, übernatürliche Mächte hätten ihre Hände im Spiel gehabt, um den Vater von seinen Qualen zu erlösen.
Beide klebten wie fest geschweißt an den Hosenbeinen des Grafen auf dem Marmorboden. Jeder weinte für sich, und doch verband sie die gemeinsame Trauer.
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Victor regierte bereits eine Woche als Graf von Grimmshagen, hatte den Vater bestattet, und die Trauer um den Verstorbenen erreichte ihren Höhepunkt. Noch nie fühlten sein Bruder und er sich so unzertrennlich, wie in diesen Tagen des Schmerzes. Überwältigten den einen seine Gefühle, stimmte der andere ein. Für Freunde, Christians nahenden Geburtstag oder die für diesen Tag geplante Hochzeit blieb kein Platz im Kopf des neuen Grafen.
Isabella zweifelte mal wieder an Victors Treue, wollte sich nicht mit seinem Fernbleiben abfinden. Barbara goss beständig Öl in die glühende Eifersucht, da sie der Freundin in den grellsten Farben ausmalte, wie verrückt die Mädchen nach dem Schönling seien, und dass sie für ihn nicht die Hand ins Feuer legen würde.
Zudem wurde es von Tag zu Tag gefährlich er für die drei. An jeder Ecke, hinter jedem Busch, auf jedem Sandhügel trafen sie auf die absonderlichsten Gestalten. Fremde aus aller Herren Länder streunten durch die Heide. Mit ein paar Brocken deutsch verständigten sie sich untereinander. Es schienen der Muttersprachen viele, die von Mund zu Mund gingen. Isabella dachte unwillkürlich an Babylon, wo der Herrgott sämtliche Einwohner mit unterschiedlichen Zungen verwirrte. Ungefähr so musste es damals zugegangen sein. Wenn die Verständigung per Sprache nicht funktionierte, nützten Hände und Füße zur Gebärdensprache.
Die sonst so menschenleere Heide entwickelte sich zum Tummelplatz der Gesetzlosen, Hasardeure und Desperados, ohne Ehre im Leib, doch mit feschen Federn an den Hüten. Hinterlistige Blicke, knurrende Mägen und an jedem Gurt ein blinkendes Messer, mitunter auch Degen oder Schwert.
Christians wilde Horde sammelte sich, wartete auf den Befehl zum Angriff, vertrieb sich bis dahin die Zeit mit Raub, Vergewaltigungen und Brandlegen. In den Dörfern ging mancher Bauernhof in Flammen auf. Schweine, Hühner und Rinder wurden aus den Ställen gezerrt, mit Stricken angeleint und zu den Taterplätzen getrieben, abgeschlachtet und am offenen Feuer geröstet.
Die Heidjer ballten die Fäuste in den Taschen, ohne sich wehren zu können, denn die Spitzbuben kamen und gingen auf leisen Sohlen. Beim Bemerken des Schadens waren sie längst auf und davon. Dunkle Wälder boten unauffindbare Verstecke. Folgte trotzdem einer den Spuren der Plünderer, lag er bald mit aufgeschlitztem Bauch auf der Wiese. Wie Mehltau zerstörten die Fremdlinge die blühende Landschaft.
Isabella sah sich außerstande, ihre Patienten aufzusuchen, verließ seit Tagen nicht die Höhle, hungerte mit Bernhard und Barbara , deren Brüste sich deshalb nur spärlich mit Milch für den durstigen Winfried füllten. Die Stimmung war denkbar schlecht. Wie schnell sich doch alles ändern kann. Nichts mehr mit Tanzen und Singen. Den Sommergrillen gleich, erwarteten sie das Ende.
Als sie sich ins Unvermeidliche gefügt hatten und kein Ausweg in Sicht war, wendete sich unverhofft das Blatt erneut, und zwar durch das Auftauchen jenes Raben, der Isabella schon so oft aus der Bedrängnis geholfen hatte. Laut und deutlich krächzte Pavor von einem Ast der neben dem Stall wurzelnden Birke: „Isabella, mach auf! Mach endlich auf!“
Im Nu öffnete das Mädchen die Luke des Erdlochs und Pavor spazierte herein. „Der Graf ist tot. Der Graf ist tot“, begrüßte er die kleine Schar mit einer Art Sprechgesang. Isabella begriff. Darum kam Victor nicht. Er betrauerte seinen Vater. Isabella verfing sich im Selbstmitleid.
„Oh je, dann wird er wohl kein Bedürfnis verspüren, jetzt Hochzeit zu feiern. Der Alte hat sich
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