Die Heilanstalt (German Edition)
erweckte ihn aus seinen Gedanken. Patrick löste mühsam den Blick vom türkisfarbenen Leuchten und drehte träge den Kopf. Im ersten Moment hielt er die Frau an seiner Seite für eine Fremde, sodass er sie nur verwundert ansah. Ihr Gesicht war so unkenntlich wie ein feuchtes Aquarell, über das jemand mit der Hand gewischt hat. Patrick stöhnte und kniff die Augen zusammen; als er wieder hinsah, erkannte er Melanie, wenn auch nach wie vor verschwommen. Er biss sich verlegen auf die Lippe und hoffte, dass sie seine anfängliche Verwirrung nicht bemerkt hatte.
»Schon zurück?«
Er wollte möglichst besonnen klingen und war froh, dass die Worte recht deutlich aus seinem Mund kamen. Melanie erwiderte nichts und wandte den Blick von ihm ab wie eine Beleidigte.
Darüber war Patrick zu gleichen Teilen überrascht und amüsiert. »Was ist denn?«
Doch Melanie verharrte in Schweigen. Er betrachtete wieder den Becher vor sich, vermied aber den Blick hinein. Nach kurzer Überlegung hob er ihn an die Lippen und trank den letzten Rest. Patrick genoss das exotische Aroma, ließ den kühlen Tee über seine Zunge hinab in den Rachen gleiten und spürte die erfrischende Wirkung, die sich vom Magen aus in seinem Körper verbreitete, um zuletzt auch seinen Geist zu umweben. Er seufzte zufrieden und wollte den Arm heben, um einen der Barkeeper herbeizuwinken und den leeren Becher wieder füllen zu lassen. Aber ein seltsames Geräusch hielt ihn von diesem Vorhaben ab. Patrick benötigte einen Moment, um zu begreifen, dass es Melanie war, die kummervoll schluchzte. Er sah sie an und wollte ihr in die Augen blicken, doch ihre Erscheinung waberte immer noch unscharf vor ihm her, als stünde sie auf der anderen Seite eines gefüllten Aquariums. Patrick zog die Brauen zusammen und rieb sich kräftig die Augen. Als er wieder hinsah, erkannte er Melanies Gesicht deutlicher und bemerkte ihre betrübte Miene. Patrick sah noch genauer hin und stellte fest, dass ihre Augen feucht und gerötet waren.
»Hey, was hast du denn?«
Er bemühte sich um Ernsthaftigkeit, auch wenn er innerlich so heiter und lebensfroh war, dass er lachen wollte. Patrick spürte, wie das Heilmittel des Hauses durch seine Adern strömte und seinen Kreislauf ankurbelte, während es zugleich jene schwebende Gelassenheit in ihm hervorrief. Am liebsten wäre er mit einem vollen Becher aufgestanden, um sich unter all die anderen gut gelaunten Patienten zu mischen, die in diesem Unterhaltungssaal nach wie vor einen dröhnenden Lärm verursachten und für eine ausgelassene Stimmung sorgten. Melanies bekümmertes Erscheinungsbild kam Patrick überhaupt nicht gelegen. Ihm war zum Feiern zumute; er wollte lachen und Spaß haben, wollte sich amüsieren und vergnügen. All die Leute um ihn her teilten offenkundig seine Gemütsverfassung, während Melanie als schwarzes Schaf aus der Reihe fiel. Auch wenn Patrick den Gedanken etwas bereute, ärgerte es ihn in diesem Moment, dass er diese Außenseiterin kennengelernt hatte und nun in der Pflicht stand, sich ihrer anzunehmen.
Er sah sie teilnahmsvoll an und berührte sie am Arm. »Willst du mir nicht sagen, was los ist?«
Melanie schniefte und drehte den Kopf zaghaft wieder in seine Richtung. Sie sah ihm prüfend in die Augen, schaute zunächst noch hoffnungsvoll, doch begann kurz darauf, im ganzen Gesicht zu zittern.
»Nicht jetzt«, erwiderte sie.
Was ist bloß mit ihr los? , dachte Patrick wirklich irritiert. Er hätte es gern gewusst, denn er mochte sie sehr. Melanie war eine nette, junge Frau, eine wahre Dame. Sie war anständig und freundlich, zudem wirklich hübsch. Aber diese kummervolle Ausstrahlung würde er auf Dauer nicht ertragen, und bestimmt beeinträchtigte sie seine Genesung, die doch so wunderbar voranschritt. Dabei fiel ihm wieder seine vorherige Absicht ein, sodass er nun endlich den Arm hob, um einen weiteren Becher des Wunderheilmittels zu ordern. Im gleichen Augenblick brachen die zurückgehaltenen Tränen bei Melanie hervor, worauf Patrick sie erschrocken ansah und den Arm wieder senkte.
Was, zum Henker, hat sie nur? , dachte er wieder. Dann verstand er plötzlich und konnte sich nur wundern, dass es ihm nicht früher aufgegangen war: Melanie beneidete ihn. Ja, sie beobachte die Geschwindigkeit seiner Heilung, während ihre eigene so lange auf sich warten ließ. Sie sah, wie wohl ihm bereits nach einem halben Tag in dieser Anstalt war, und litt offensichtlich unter der Vorstellung, dass Patrick schon nach
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