Die Heilanstalt (German Edition)
den öffentlichen Toiletten und im privaten Zimmer. Sie trat an eines der Waschbecken, die sich unter einem fast die ganze Wand einnehmenden Spiegel befanden, und beugte sich routiniert darüber; sie tat es täglich auf diese Weise.
Als sie den Mund unter den Hahn hielt, gab dieser automatisch einen sanften Wasserstrahl ab. Melanie trank ohne Eile und ließ das erfrischend kühle Wasser die Kehle hinab rinnen. Sie hatte ihren Durst noch nicht ganz gestillt, als hinter ihr plötzlich eine der Kabinen aufging. Melanie richtete sich so abrupt vom Waschbecken auf, dass sie sich fast verschluckte. Ein Schrecken war in sie gefahren, da sie sich allein gewähnt hatte, und intuitiv wollte sie verbergen, dass sie anstatt des Tees Wasser trank. Sie wischte sich den feuchten Mund ab und hielt die Hände unter den Hahn, um vorzugeben, dass sie sich bloß wusch.
Es war eine junge Frau, die aus der Kabine getreten war. Sie stellte sich an das Becken neben Melanie, sah kurz in den Spiegel und wandte den Blick mit verzerrtem Gesicht wieder ab, als wäre ihr der Anblick des eigenen Spiegelbilds zuwider. Dies war schwerlich mit ihrem Aussehen zu begründen, denn sie war sehr hübsch. Vielmehr schien es, als würde ihr der Blick in die eigenen Augen Schmerzen oder wenigstens Unbehagen bereiten.
Vorsichtig, nur aus dem Augenwinkel, sah Melanie sie an; die Frau hatte ein schönes Gesicht mit glatter Haut, schmalen Lippen und hohen Wangenknochen; doch sie wirkte schlaff und müde. Die Tränensäcke waren violett verfärbt und die Augen beängstigend gläsern, viel schlimmer noch, als sie es zuweilen bei Patrick beobachtete. Geistesverloren wusch die Frau sich die Hände und wisperte dabei unverständliche Halbsätze vor sich her. Als sie fertig war, drehte sie sich zu Melanie und sah ihr direkt ins Gesicht. Dabei war ihr Blick aber völlig ins Leere gerichtet und führte geradewegs durch Melanie hindurch. Ihre Augen waren ausdruckslos und starr, als befände sich hinter ihnen keinerlei Bewusstsein. Einen Moment schien es, als wollte die Frau etwas zu Melanie sagen, denn sie hatte leicht den Mund geöffnet und versuchte offenbar gewisse Laute zu formen. Und tatsächlich kam ihr kurz etwas über die Lippen, eine grobe, zweisilbige Artikulation, die im ersten Augenblick nur ein sinnloses Stöhnen zu sein schien, aber bei genauem Hinhören wie Hilfe klang.
Melanie erwiderte den leeren Blick der jungen Frau mit ängstlicher Miene. »Ich verstehe Sie nicht. Fehlt Ihnen etwas?«
Die Frau hielt den Mund geöffnet und blickte Melanie mit einem gemischten Ausdruck aus Verzweiflung und Erwartung an. Kurz darauf verlor sich die Spannung in ihrem Gesicht und wandte sie sich betrübt ab. Halblaut murmelnd steuerte die Frau die Tür an und trat ungelenk hinaus. Melanie blieb zitternd, wo sie war.
Was geht hier vor sich? Was ist mit all den Menschen?
Natürlich waren Melanie während der zwei Wochen, die sie in dieser Heilanstalt verbracht hatte, häufig Patienten begegnet, die einen Furcht einflößenden Eindruck auf sie gemacht hatten. Gleich am ersten Abend hatte Melanie sich an ihren Therapeuten, von Wallenstein, gewandt, um ihm zu gestehen, dass manche Patienten ihr unheimlich seien und Angst machten. Daraufhin hatte von Wallenstein ihr die vielen verschiedenen Krankheitsfälle benannt, die in diesem Sanatorium behandelt würden: Rehapatienten von Schlaganfällen, Opfer von Ärztepfuscherei, Menschen, die fast ertrunken wären und deren Gehirn bedenklich lang ohne Sauerstoff gewesen war, oder Personen, die nach einem schweren Schicksalsschlag traumatisiert waren.
Alle möglichen Fälle seien hier in Behandlung, aber Melanie brauche sich vor keinem zu fürchten. Der Therapeut hatte sogar eingeräumt, dass manche Patienten wie wandelnde Untote auf sie wirken mochten, doch sei eine solche Umschreibung ganz und gar unangebracht; es seien teils schwer erkrankte Menschen, von denen sich die meisten in einer weitaus ernsteren Situation befänden als Melanie, die sich ja bloß den Kopf angeschlagen habe und im Grunde nur Erholung brauche. Er verstehe, dass einige Fälle beängstigend und sogar abschreckend auf sie wirkten, doch würden in diesem Hause keine Personen mit fremdaggressivem Verhalten behandelt; bei manchen möge es vorkommen, dass sie sich selbst verletzten, aber keiner, das verspreche er, würde einem anderen Menschen etwas zuleide tun; für solche Kandidaten seien andere Einrichtungen zuständig. Auf diese Weise erklärte von
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