Die Heilanstalt (German Edition)
Wallenstein Melanies Sorgen für unbegründet und sagte, sie werde sich bald genug einleben und an alles gewöhnen. Ohnehin werde sie ja aller Voraussicht nach nicht allzu lang bleiben müssen.
Von Wallenstein hatte Melanie an diesem ersten Tag überzeugt und ihr vorübergehend die Bedenken genommen. Mit der Zeit hatten sich jedoch Zweifel in ihr genährt, und immer mehr hatte sie die Worte ihres Therapeuten für unwahr, schlicht erlogen gehalten. Schließlich war sie nicht blind; Tag für Tag beobachtete Melanie Patienten, die mit gläsernem Blick und betäubtem Verstand durch die Anstalt wanderten. Manche wirkten derart verwirrt, als wüssten sie kaum ihren eigenen Namen.
Möglich, dass all dies ihren Erkrankungen geschuldet war; auffallend war allerdings das einförmige Verhaltensmuster, das Melanie bei allen Patienten feststellte. Jene, um die es besonders schlimm stand, schienen von demselben Rausch befallen, wanderten gleichsam wie im Schlaf umher, bewegten sich in fließend leichten Bewegungen, als würden sie auf einer unsichtbaren Wolke schweben, und schienen auf eigenartige Weise benebelt, im Körper wie im Geiste. Wie sollten all jene unterschiedlichen Krankheitsbilder, die von Wallenstein ihr aufgezählt hatte, eine so einheitliche Symptomatik aufweisen?
Es sind keine Krankheiten, die sie zu so willenlosen Wesen machen , dachte Melanie und war sich bewusst, dass sie im Grunde gar nicht länger verleugnen konnte, was sie in den ersten Tagen bereits geahnt und spätestens nach der ersten Woche gewusst hatte.
Es ist der Tee …
Seit dem Tag ihrer Ankunft waren ihr vor allem die ausdruckslosen Augen der Patienten aufgefallen, sämtlicher Patienten. Selbst jene, die noch nicht lange hier waren und deren Sinne weitgehend klar zu sein schienen, besaßen diesen leblosen und verlorenen Blick, der ohne Ausdruck und Gefühl war.
Melanie wollte von Wallenstein auch auf diese beunruhigende Beobachtung ansprechen, aber bemerkte dann, dass auch seine Augen von dieser erschreckenden Teilnahmslosigkeit geprägt waren. Seitdem verspürte sie wahre Angst … vor den Patienten, vor ihrem Therapeuten, vor der ganzen Anstalt.
Melanie trank den Tee nicht, hatte es von Anfang an nicht getan, denn jene Geschichte von der Großmutter, die sie Patrick erzählt hatte, stimmte wirklich. Sie wusste nicht, was in diesem Sanatorium vorging, welche höheren Mächte und Absichten an diesem Ort walteten, sie wusste nicht, was der Tee den Menschen antat und zu welchem Zweck es geschah; aber sie wusste, es war etwas Schlimmes, und aufgrund ihrer zufälligen Abstinenz war sie als Einzige davon ausgenommen.
Melanie blickte in den Spiegel und betrachtete ihre klaren Augen. Und plötzlich sprach im Inneren wieder jene Stimme zu ihr, wie schon vorhin im Hof, als Patrick geschlafen hatte.
Du weißt, welche Mächte in dieser Anstalt wirken, und kennst ihre Absichten , sagte sie. Du weißt, was mit den Menschen geschieht, die den Tee trinken. Du weißt, was passiert, wenn sie geheilt werden …
Melanie stöhnte und kniff die Augen zusammen. Sie wollte die Stimme aus ihrem Kopf verscheuchen, aber sie blieb und sprach weiter.
Du kennst die Welt außerhalb dieser Mauern. Du hast sie gesehen, die immerwährende Dunkelheit, die ewige Nacht …
Melanie unterdrückte einen Schrei und presste sich die Hände auf die Ohren. Doch die Stimme blieb.
Du erinnerst dich an dein wahres Leben. Du weißt, dass dein Name nicht Melanie ist …
Melanie kniff die Augen so stark zusammen, dass es schmerzte. Aber die Tränen ließen sich nicht aufhalten und kullerten ihr heiß und salzig über die Wangen; grauenvolle Bilder schwirrten ihr durchs Gedächtnis, tanzten und blitzten in ihrer Erinnerung und vereinnahmten ihren Verstand; und dann hörte sie eine andere Stimme, eine Stimme aus ferner Vergangenheit, die aus einem verschwommenen Gesicht zu ihr sprach.
Ich hab dich lieb, Kleines , rief sie. Ich werde dich nicht vergessen, hörst du? Vielleicht nehmen sie mir alles andere, aber dich werde ich nicht vergessen, Judith. Niemals.
Melanie wollte dem Bilderstrudel entkommen, doch verlor sich umso mehr in seinen Tiefen. Sie weinte bitterlich und schluchzte so sehr, dass sie kaum noch Luft bekam.
Befremdlicher Rausch
So gut es ging, wusch Melanie ihr verweintes Gesicht, doch es war auch danach noch ganz zerknittert und gerötet. Ihre Augen waren vom Salz der Tränen gereizt, und ihr Mund war zittrig und farblos.
Sie ging zögernd auf die Theke zu und
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