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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Geraedts
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mochte zuerst gar nicht an Patricks Seite treten; er sollte nicht sehen, dass sie geweint hatte. Er würde fragen, was geschehen war, und sie würde es ihm nicht sagen können.
    Melanie kannte die Wahrheit, wenn sie auch noch zögerte, sie vollständig anzuerkennen. Der Faden, an dem ihre Theorie von der eigenen Geisteserkrankung hing, war inzwischen hauchdünn, aber noch nicht ganz gerissen. Sie war noch nicht bereit, ein für allemal auszuschließen, dass jenes andere Leben in ihrem Gedächtnis nur ein sehr reales Hirngespinst war. Unentwegt haderte sie mit sich und war zutiefst verunsichert.
    Als sie schließlich doch zu Patrick an die Theke ging, sah einer der Barkeeper sie mit hochgezogenen Brauen an, bereit, ihre Bestellung aufzunehmen. Einen Augenblick war sie versucht, einen Becher des Tees zu trinken, einzig zu dem Zweck, endlich Gewissheit zu erlangen. Wäre es gewöhnlicher Tee, stünde fest, dass jene Schreckensbilder unsinnig waren, die ihr vor dem geistigen Auge flimmerten. Ihr Name wäre wirklich Melanie und ein anderes Dasein mitsamt all den damit verbundenen Erinnerungen nichts als Träumerei.
    Besäße der Tee jedoch die Wirkung, die sie ihm unterstellte, so wären all jene Bilder in ihrem Kopf wahr und die Welt außerhalb der Heilanstalt tatsächlich so beschaffen, wie die Stimme der Vernunft es ihr versichern wollte. In diesem Fall wiederum dürfte sie den Tee unter keinen Umständen anrühren, da schon ein Becher ausreichen mochte, um sie unrettbar in die Fänge des Sanatoriums zu treiben.
    Melanie schüttelte den Kopf und winkte ab. Der Thekenbedienstete verstand und kümmerte sich um andere Patienten. Vorerst musste sie mit der Ungewissheit leben. Sie brauchte noch Zeit, um die letzten Zweifel zu überwinden, und würde abwarten, bis sie ganz sicher war.
    Melanie sah Patrick an, der sie wieder einmal nicht bemerkte und geistesverloren in den Becher vor ihm starrte. Langsam und gleichmäßig ließ er den rechten Zeigefinger über den Rand kreisen. Er hatte ein wenig den Mund geöffnet und schien in einen endlosen Tunnel zu blicken.
    »Patrick?«
    Sie hoffte einen Moment lang, er wäre wieder der junge Mann von heute Morgen, jener höfliche, schüchterne und liebenswürdige Mensch, der er noch gewesen war, als Melanie ihn beim Frühstück angesprochen hatte, bei Sinnen und unerreicht von der rätselhaften Wirkung des Tees. Als er aber schlafwandlerisch den Kopf zu ihr drehte, in denen seine Augen wie trübe Murmeln steckten, fuhr ihr die Einsicht wie ein Dolch ins Herz, dass er bereits zu ihnen gehörte … zu all den anderen Patienten, die in dieser Anstalt umherliefen und das Denken verlernt hatten.
    Er ist verloren , dachte Melanie und hielt neue Tränen zurück. Die Heilung hat eingesetzt und ist nicht mehr umzukehren.
    Melanie wusste, dass sie ihn davor hätte bewahren können, wenn sie heute Vormittag im Wandelgarten zu Ende gesprochen hätte, wenn sie bloß den Mut besessen hätte, ihm alles zu erzählen, was er vergessen hatte, was alle Menschen hier vergessen hatten. Niemand erinnerte sich an die äußere Welt, und sie konnte als Einzige davon berichten. Doch Melanie hatte es nicht zustande gebracht, konnte es selbst jetzt noch nicht, weil sie immer noch nicht ganz ausschließen wollte, verrückt zu sein. Und während sie nun Patricks gedankenverlorenes Gesicht betrachtete und in seine glasigen Augen blickte, da begriff sie mit einem Gefühl tiefster Einsamkeit, dass sie den einzigen Menschen verloren hatte, mit dem sie hätte reden können.
    Patrick saß nach vorn gebeugt an der Theke und starrte verträumt in den Becher, auf dessen Boden er eine kleine Pfütze des Tees übrig gelassen hatte. Den letzten Schluck zu trinken, brachte er nicht übers Herz; er wollte das verzaubernde Leuchten bewahren, das vom Grund des Bechers zu ihm empor schimmerte und seinen Geist an einen anderen, besseren Ort entführte. Selbst in diesem kleinen Rest der illuminierenden Flüssigkeit schien ein ganzes Universum an Mustern und Formen verborgen zu sein, das sich ihm auf unendlich wandelbare Weise offenbarte und seine Sinne in eine himmlische Versunkenheit hinab sog, zu einem verborgenen Wunderland, das seiner Seele eine Katharsis von allen Sorgen, Ängsten und Spannungen zuteilwerden ließ.
    Dies ist das Gefühl der Heilung, dachte er mit ehrfürchtigem Erstaunen. So fühlt es sich an, wenn das Leid schwindet und die Gesundheit an seine Stelle tritt.
    Eine weibliche Stimme, die leise seinen Namen sagte,

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