Die Heilanstalt (German Edition)
wenigen Tagen wieder abreisen und sie allein hier zurücklassen würde. Selbstverständlich war es frustrierend und ernüchternd für Melanie, Patricks raschen Heilungsfortschritt zu beobachten, während sie selbst seit geschlagenen zwei Wochen auf der Stelle trat.
Selbst schuld, Kind, trink eben den Tee , dachte er und war sogar im Begriff, es auszusprechen. Aber erstens wusste Melanie vermutlich selbst, dass es ihrem Verzicht auf das Wunderheilmittel geschuldet war, dass ihre Genesung ausblieb, denn sie sah doch, wie sehr es Patrick half. Zweitens würde ihr ein solcher Rat nichts nutzen, da man gegen Kindheitstraumata nun einmal machtlos war. Patrick erging es ebenso mit Lakritze; zwar entsann er sich momentan nicht, woher diese Abneigung stammte, glaubte aber zu wissen, dass sie – ebenso wie Melanies Ekel vor dem Tee – ihre Wurzeln in seiner frühen Kindheit hatte. Unter keinen Umständen konnte er dieses schwarze, klebrige, im Geschmack so widerliche Zeug herunter bekommen. Dass Melanie eine solche Abscheu ausgerechnet für das Geheimrezept des Hauses empfand, war bemitleidenswertes Pech. Kein Wunder also, dass sie so unglücklich war. Aber eines konnte Patrick immerhin tun: sie ablenken und aufmuntern durch das weitreichende Unterhaltungsangebot des Sanatoriums. Zumindest redete er es sich ein, obwohl es eher zutraf, dass er seinen eigenen Spieltrieb befriedigen und seine Langeweile vertreiben wollte.
»Hör zu«, sagte er und strich ihr die Tränen von den Wangen. »Was hältst du davon, wenn wir ein wenig durch die Gegend laufen und die Zeit totschlagen?«
Melanie sah ihn flehend an. »Tust du mir einen Gefallen?«
Patrick lächelte verwundert und hob erwartungsvoll die Brauen.
»Bitte trink nicht mehr den Tee«, sagte sie. »Er macht etwas mit dir … mit allen Leuten hier … etwas Schlimmes. Bitte trink ihn nicht mehr.«
Patricks Atem stockte, und sein Lächeln erlosch. In seiner Magengrube brodelte es, und eine Reihe grober Beschimpfungen schoss ihm durch den Kopf.
Geisteskranke Schnepfe, blöde Kuh! Nur weil du den Tee, dieses herrliche Heilmittel, wegen eines bescheuerten Kindheitstraumas nicht ausstehen kannst, soll ich ebenfalls auf meine Genesung verzichten? Geh mit deinen psychopathischen Problemen zu von Wallenstein, aber lass mich damit in Ruhe! Du bist sauer, weil ich so schnelle Fortschritte mache, das ist mir klar, Melanie. Aber du solltest es mir gönnen, anstatt mich an deiner Misere teilhaben zu lassen! Ich hätte dich selbstloser eingeschätzt!
Diese und ähnliche Gedanken beherrschten Patricks Verstand, aber sie kamen ihm nicht über die Lippen. Vielleicht, weil er Melanie zu sehr mochte. Vielleicht, weil er sah, wie schlecht es ihr ging …
Vielleicht, weil du tief in deinem Inneren weißt, dass sie die Wahrheit sagt.
Patrick verscheuchte diesen letzten Gedanken wie eine lästige Fliege. Er hatte sich wieder etwas beruhigt und Luft geholt, auch wenn seine Atmung dem Schnaufen eines Stiers glich, dem der Torero ein rotes Tuch vorhält. Sein Gesicht war von wütenden Falten durchzogen und so starr wie eine Wachsmaske. Er hatte Lust, zwei Becher auf einmal zu bestellen und sie jeweils in einem Zug vor Melanies Augen austrinken, um sie zu bestrafen. Aber nach einiger Überlegung kam er zu dem Schluss, dass er ihr auf diese Weise bloß recht geben würde und ein weitaus wirkungsvollerer Fußtritt darin bestünde, ihr zu zeigen, wie absurd ihr Gerede war. Folglich entschied Patrick, ihrer Bitte nachzukommen und – jedenfalls für den Augenblick – auf weiteren Tee zu verzichten.
»Na schön, dann trinke ich eben nichts mehr davon«, sagte er und rang sich sogar ein freundliches Lächeln ab, auch wenn er in Wirklichkeit schon wieder ein drückendes Unbehagen verspürte und merkte, wie sein Körperinneres gegen diese Entscheidung protestierte. Sein Magen knurrte unzufrieden, und seine Arme wollten sich von allein heben, um einen neuen Tee anzufordern. Aber Patrick blieb standhaft und dachte nicht daran, Melanie in ihrer unsinnigen Vermutung zu bestätigen.
»Ich flitze nur schnell zur Toilette, und wenn ich zurück bin, machen wir die Anstalt unsicher!«
Melanie sah ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Unglauben an, da sie sein Einverständnis nicht erwartet hatte. Patrick grinste triumphierend und erhob sich vom Hocker. Natürlich kostete es ihn einige Überwindung, ohne einen frischen Becher die Theke zu verlassen, doch er wollte keinesfalls klein beigeben. Nachdem
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