Die Heilanstalt (German Edition)
schielte ins Leere und war ohne Anteilnahme am gegenwärtigen Geschehen.
Folglich hörte Patrick jene Schreie nicht, die inzwischen so nah und laut waren, dass manche Patienten sich mit verzerrten Mienen die Hände auf die Ohren pressten.
Auch bestand kein Zweifel mehr, woher sie kamen, und alle Gäste des Sanatoriums zeigten sich darin einig, indem einer nach dem anderen den Kopf drehte und zuletzt alle in dieselbe Richtung blickten – zu jener Flügeltür, über der eine große römische Zwei geschrieben stand.
Ein bestürztes Raunen begleitete diese Einsicht; denn allabendlich, während ihrer Zimmervisiten, beschrieben die Therapeuten die Zweite Abteilung als wundervoll eingerichtete Ruhestätte, als einen Ort der Abgeschiedenheit und Entspannung, an dem die Patienten ohne Ablenkung und fern negativer Einflüsse ihre endgültige Heilung erlangten. Wer die Flügeltür zur Zweiten Abteilung durchquere, so hieß es, trete den letzten Gang zur Gesundung an, habe die Krankheit im Wesentlichen bereits überwunden und befinde sich auf der Zielgeraden zur Genesung. Die Patienten bezweifelten die Worte ihrer Therapeuten nicht, taten es nie, und stellten sich unter der Zweiten Abteilung ein Paradies vor, ein Garten Eden vor dem Sündenfall, noch hübscher und exquisiter gestaltet als der Rest des Sanatoriums, wenn dies auch kaum vorstellbar war. So lag es nahe, dass alle Gäste von Anbeginn ihres Aufenthalts die Umquartierung anstrebten und zu diesem Zweck gehorsam die Anweisung ihrer Therapeuten befolgten, täglich das Wunderrezept des Hauses zu konsumieren, dessen Heilwirkung ihnen den ersehnten Weg unter Garantie ebnen werde.
Entsprechend groß war das allgemeine Befremden, als nun ausgerechnet von jenseits der betreffenden Flügeltür ein Geschrei in den Saal drang, in dem so viel Angst und Qual lag, als würde an jenem angepriesenen Ort nicht die Heilung umrahmt von Luxus und Erholung warten, sondern Folter und Misshandlung.
Die Gäste im Speisesaal hielten fassungslos den Atem an und wussten, dass die grauenvollen Schreie in Kürze ein Gesicht bekämen, das nicht weniger entsetzlich sein konnte. Wie versteinert blickten sie auf jene Flügeltür, die stets verschlossen war und kein Patient der Abteilung Eins je offen gesehen hatte.
Melanie, die von allen Anwesenden den klarsten, ja einzig ungetrübten Verstand besaß und deren Angst durch keinen Rausch gedämpft war, spürte ihr Herz vor Aufregung hart gegen die Brust schlagen. Die Stimme der Vernunft erwachte wieder in ihrem Kopf und flüsterte, dass sie es doch die ganze Zeit über gewusst habe, dass sie die Fassade der Heilanstalt längst durchschaut und ihr wahres Wesen erkannt habe, ohne es sich eingestehen zu wollen. Melanie presste die Lippen zusammen und schluckte beschämt; zwei Wochen lang hatte sie ihr Wissen wie Unrat unter den Teppich gekehrt. Ein erdrückendes Gefühl erwachte in ihr und stemmte sich wie ein Amboss auf ihre Gedanken. Das Sanatorium war im Kern so gefährlich wie ein Geschwür, das man zwar schon lange als trägen Kloß im Magen gespürt, aber sich immerzu eingeredet hat, dass man lediglich etwas Falsches gegessen habe.
Die Anstalt erlaubte sich schließlich eine Nachlässigkeit in ihrer Maskerade und gewährte einen Blick hinter die Kulissen, wenn auch nur flüchtig. Melanie richtete sich auf den Moment ein, da die Kehrseite der Medaille sich zeigen würde, jene bislang verborgen gebliebene Hälfte der Wahrheit, die so schlimm sein musste, dass sie einen Menschen dazu veranlasste, grässliche Schreie auszustoßen.
Sie waren nun ganz nah, jene Schreie, und begleitet von stampfenden Schritten. Wenige Augenblicke später erbebte die Flügeltür der Zweiten Abteilung mit einem dumpfen Knall, als hätte jemand von innen einen Rammbock gegen sie gestoßen. Zugleich verstummten die Schreie, und ein leises Wimmern trat an ihre Stelle, weinerlich und voller Verzweiflung. Kurz darauf folgte ein trockenes Kratzen, als würden Fingernägel über sperriges Holz schaben. Dann wieder Schreie, so angstvoll und gequält wie zuvor, doch erstmals durchmischt von klar verständlichen Worten.
»Hilfe! Hört mich jemand? Bitte helft mir!«
Die Stimme jenseits der Tür war panisch und gehörte dem Klang nach einem jungen Mann.
»So helft mir doch! Sie kommen mich holen! Oh, Gott, bitte!«
Die Patienten im Saal sahen einander schockiert an und rückten unsicher auf ihren Stühlen hin und her. Sie wussten, dass sie zur Tür eilen und das stets
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