Die Heilanstalt (German Edition)
und ein Patient noch nicht ganz so weit vorangeschritten, wie wir glaubten. So etwas kommt vor, Sie mögen es uns verzeihen. Bitte beenden Sie nun in Ruhe Ihr Abendessen und genehmigen Sie sich doch einen Tee mehr als gewöhnlich, um Ihr Gemüt nach diesem unerfreulichen Zwischenfall ein wenig zu beruhigen. Wir wollen schließlich keinen Rückschritt Ihres Heilungsprozesses riskieren, nicht?«
Ein skeptisches Gemurmel erfüllte den Saal, und die Patienten betrachteten misstrauisch ihre Becher. Derweil drehte der junge, ausgehungerte Mann ein letztes Mal den Kopf, um zu Melanie hinüberzusehen. Sie erwiderte seinen Blick, und für einen kurzen Moment bestand zwischen ihnen noch einmal ein inniger Augenkontakt.
Rette dich , sandte er ihr gedanklich zu, bevor von Wallenstein mit einer Hand den Kopf des jungen Mannes ins Kissen niederdrückte und ihm mit der anderen ein feuchtes Tuch aufs Gesicht presste. Der Mann wehrte sich keuchend, doch er musste das Narkosemittel letztlich einatmen; er verdrehte die Augen, verlor jede Körperspannung und kurz darauf auch das Bewusstsein. Anschließend drehte von Wallenstein sich forschend um, entdeckte Melanie und starrte sie mit bedrohlichem Blick an. Sie wollte vor Schreck schreien und spürte, wie ihre Eingeweide erglühten. Von Wallensteins trübe Augen durchbohrten sie, drangen in ihr Innenleben und leuchteten es aus.
Mag es sein, dass Sie unseren Tee nicht trinken, Frau Kahlbach? , fragte sein prüfender Blick. Es wäre ein Jammer, wenn Sie das Geheimrezept so leichtfertig ablehnten. Aber auch Sie werden schon bald die Abteilung wechseln, nur Geduld, auch Sie werden wir heilen. Darauf ist in unserem Hause Verlass.
Von Wallenstein wandte den Blick wieder ab; gemeinsam mit dem wieder eingefangenen Ausreißer und den drei großen Männern, die der Therapeut später auf seinen Zimmervisiten als »Sicherheitspersonal« bezeichnen würde, durchquerte er die Flügeltür zur Abteilung Zwei, die daraufhin wie ein Vorhang auf der Theaterbühne zufiel und den Einblick in den Kulissenbereich fortan wieder verhinderte.
Alles Außergewöhnliche war auf einmal wieder vergangen; nichts war übrig von jenem Störfall, der kurzzeitig die Eintracht des Sanatoriums aus dem Takt gebracht hatte. Es war förmlich spürbar, wie die Zahnräder der großen Maschinerie ratternd wieder anliefen, nachdem kurzzeitig eine Handvoll Sand in sie geraten war. Das zweifelnde Gemurmel der Menschen klang mehr und mehr ab, um schließlich ganz zu verstummen. Melanie beobachtete fassungslos, wie die Leute ungerührt weiter aßen und routiniert nach ihren Bechern griffen, als wäre nichts geschehen. Unbekümmert tranken sie den Tee und waren binnen weniger Minuten wieder in einem gemeinsamen Rausch versunken, der sie dazu bewog, mit gläsernen Augen vor sich hinzustarren und mit monotoner Stimme, einige im Selbstgespräch, über Nichtigkeiten zu reden. Es war, als hätten sie bereits alles vergessen; und Melanie glaubte mit einigem Entsetzen, dass dem wohl wirklich so war.
Zweifellos war es möglich; sie selbst, deren Verstand von keinem seltsamen Rausch umnebelt war, ertappte sich bei dem Gedanken, dass diese ganze Schreckensszene womöglich gar nicht stattgefunden hatte. Nichts deutete mehr auf das Geschehene hin, die Fassade des Sanatoriums war wieder lückenlos geschlossen, ohne einen Hinweis darauf, dass es sich nur um einen künstlich errichteten Vordergrund handelte, hinter dem sich ein unvorstellbares Grauen abspielen mochte. Melanie empfand es als erschreckend, wie anfällig der menschliche Verstand für Lug und Betrug war, wie empfänglich für Täuschung und Verblendung. War die Vernunft zudem durch eine rätselhafte Droge beeinträchtigt, vermochte sie wohl gar keine Gegenwehr mehr zu leisten; jede Urteilskraft ging verloren, und jede noch so offenkundig vorgegaukelte Inszenierung wurde als Wahrheit anerkannt.
Melanie aber besaß im Gegensatz zu all den anderen Leuten im Saal klare Sinne und vor allem ein einwandfreies Gedächtnis; was sie gesehen hatte, ließ sich nicht verleugnen. Sie brauchte sich nur an den Blick des jungen Mannes zu erinnern, in dem die Aufforderung geschrieben stand, von diesem Ort zu fliehen, aus den Mauern dieser Anstalt zu entkommen, solange dies noch möglich war. Melanie konnte sich nicht länger selbst betrügen, auch wenn sie es gewollt hätte, und musste einsehen, dass die Welt des Sanatoriums ein gefährliches Lügengerüst war, aus dem sie sich umgehend zu befreien
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