Die Heilanstalt (German Edition)
Kopfbewegungen sahen die muskulösen Kerle sich um, entdeckten den gesuchten Ausreißer und stürzten sich umgehend auf ihn.
»Nein! Aufhören! Lasst mich los!«
Die Männer fassten ihn grob an, hielten ihn zu dritt fest und rangen ihn gewaltsam zu Boden. Obgleich er sich zunächst noch wehrte, sah der dürre Unbekleidete doch bald ein, dass jeder Widerstand gegen die geballte Muskelkraft sinnlos war. Resigniert entspannte er den ohnehin schon überstrapazierten Körper und fügte sich in sein Schicksal. Einer der Männer drehte ihn auf den Bauch, ein anderer hielt seine Beine fest und der Dritte verschränkte ihm die Arme auf dem Rücken.
Mit tränennassen Augen blickte der ausgemergelte Nackte auf, um noch einmal die tatenlos Zusehenden im Saal zu betrachten. So wie vorhin wanderte sein Blick nervös hin und her, herauf und herunter, um dann plötzlich zur Ruhe zu kommen, als Melanie in sein Gesichtsfeld fiel, so als hätte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Ganz ruhig sah er sie an, während Melanie seinen Blick mit einer Mischung aus Angst und Erstaunen erwiderte. Sie waren einander fremd, hatten sich nie zuvor gesehen, und doch verband sie etwas, das sie von allen anderen im Saal unterschied: Ihre Augen waren klar.
Der junge Mann sagte nichts zu ihr, doch er sah ihr tief in die Augen und übersandte ihr eine Botschaft, die teilweise in seinem Gesicht zu lesen war, aber mehr noch in dem ungetrübten Seelenleben jenseits seiner Pupillen.
Flieh! Für alle anderen ist es zu spät und auch für mich. Aber du kannst noch entkommen.
Melanie empfing diese Botschaft so deutlich, als würde sie die Stimme des jungen Mannes im Zentrum ihres Kopfes hören. Gebannt sah sie ihn an, voller Furcht, voller Verwunderung, und nickte ihm dann kurz zu, beinah unmerklich. Der abgezehrte Mann nahm es sofort wahr und antwortete mit einem erleichterten Lächeln, ebenso flüchtig und für Außenstehende praktisch unsichtbar. Unmittelbar darauf wurde ihr Blickkontakt jäh unterbrochen, jene besondere Verbindung zweier lebendiger Augen, die an diesem Ort eine Ausnahme von der Regel war, ein zu behebender Störfall im System des Sanatoriums.
Gabriel von Wallenstein war ins Sichtfeld getreten; Melanie war so sehr im Blick des jungen Mannes versunken gewesen, dass sie den Therapeuten gar nicht kommen gesehen hatte. Offenbar war er, ebenso wie das Trio der kahlköpfigen Männer, aus der Zweiten Abteilung in den Speisesaal gelangt, denn eine Hälfte der Tür war noch pendelnd in Bewegung, als wäre ihr erst wenige Augenblicke zuvor ein Stoß versetzt worden. Von Wallenstein hatte ein schmales Bett herangerollt und einen weißen Bademantel mitgebracht. Die drei muskulösen Männer nötigten den Entflohenen in den Mantel und legten ihn dann rücklings auf das Bett. Von Wallenstein beugte sich über den Ausreißer in dem Glauben, dessen Widerstand sei gebrochen und keine weitere Gegenwehr zu erwarten. Doch ein letztes Mal noch bäumte er sich auf, strampelte mit den Beinen und fuchtelte mit den Armen, wobei er den strahlend weißen Kittel des Therapeuten von der Brust abwärts mit dunklem Dreck beschmutzte. Von Wallenstein wich einen Schritt zurück und senkte den Kopf, um erstaunt die Verunreinigung zu betrachten. Derweil band einer der kräftigen Männer die Arme und Beine des widerspenstigen Patienten mithilfe lederner Schlaufen ans Bettgestell. Von Wallenstein sah noch einen Moment lang ungläubig an sich hinab, als wollte er sich überzeugen, dass der Schmutz auf seinem ansonsten so makellos reinen Kittel echt war, und trat anschließend wieder ans Bett heran.
Er bedachte den jungen Mann mit einem liebevollen Lächeln und tätschelte dessen Wange. »Was machst du uns bloß für einen Ärger, hm? Nun bringen wir dich aber schnell zurück in dein Zimmer, damit recht bald deine überfällige Heilung eintritt.«
Bei dem Wort Heilung brach der Mann in Tränen aus; er schluchzte und riss verzweifelt an den Lederschlaufen. »Nein! Bitte nicht! Bitte!«
Aber von Wallenstein streichelte bloß weiterhin seine Wange und machte beruhigende Zischlaute, während einer der drei kräftigen Männer das Bett vorwärts schob, in Richtung jener Flügeltür, die in Kürze wieder fest verschlossen sein würde, so als hätte sie sich nie geöffnet.
Von Wallenstein wandte sich mit einem herzlichen Lächeln an die starr dreinschauenden Patienten der Abteilung Eins. »Ich bitte, die Störung zu entschuldigen. Manchmal ist unsere Diagnose etwas voreilig
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