Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Geraedts
Vom Netzwerk:
versperrte Schloss mit vereinter Kraft aufbrechen mussten; doch niemand wollte aufstehen, um dem armen Menschen zu Hilfe zu kommen. Jeder verließ sich in dieser Hinsicht auf den anderen. So blieben letztlich alle auf ihrem Platz und verharrten schweigsam in Untätigkeit. Aber auch ohne ihr Mitwirken geschah kurz darauf, was geschehen musste und worauf alle insgeheim gewartet hatten: Zum Hörbaren stieß das Sichtbare hinzu, sodass sich das Ereignis zu einem vollständigen Schauspiel des Grauens fügte.
    Jener um Hilfe flehende Mensch schaffte es, die Flügeltür zu öffnen – sei es durch eine Sperrvorrichtung, die er zuvor übersehen hatte, sei es auf andere Art und Weise – und stieß sie kraftvoll nach vorn. Dieser Erfolg überraschte ihn offenbar, denn aufgrund des plötzlich verschwundenen Widerstands verlor er das Gleichgewicht und stürzte mit rudernden Armen der Länge nach zu Boden. Tatsächlich handelte es sich um einen jungen Mann, kaum älter als zwanzig Jahre, der sehr schmächtig war, richtiggehend dürr, als hätte er monatelang Hunger gelitten. Dies war unschwer zu erkennen, denn der Mann war nackt.
    Hastig versuchte er wieder auf die Beine zu kommen, was ihm zunächst nicht gelang; strampelnd und gekrümmt lag er am Boden und konnte sich erst nach einer Weile in eine kniende Position bringen, aus der er sich mühevoll aufzurichten begann. Einige Male musste er sich mit einer Hand am Boden abstützen, um nicht gleich wieder zu fallen, und schaffte es endlich unter sichtlicher Anstrengung, die Beine durchzustrecken, wobei sein Rücken jedoch buckelartig gekrümmt blieb. Erst im aufrechten Stand wurde vollends sichtbar, wie abgemagert der junge Mann war. Sein Körper war wie ein Skelett, überzogen mit einer dünnen Hautschicht, die Rippenknochen zeichneten sich unter dem mageren Fleisch ab, und seine Wangen waren so eingefallen wie von der Brandung ausgehöhlte Felsen. Sein Körper war von verkrustetem Dreck überzogen, als hätte er in einem Erdloch gehaust, und sein bis über die Schultern reichendes Haar war derart zerzaust, verknotet und verfilzt, als wäre es seit einer Ewigkeit nicht mehr mit Wasser in Berührung gekommen. Mit offenem Mund und schreckgeweiteten Augen sah der Unbekleidete sich im Saal um, als wüsste er weder wo er sich befand noch wie er hierhergekommen war. Er drehte ruckartig den Kopf hin und her wie eine Eule auf Beutesuche und stand offenkundig unter Schock, weswegen er wohl vergaß, den entblößten Schambereich mit den Händen zu bedecken.
    Die Patienten, von denen sich immer noch keiner von seinem Platz erhob, starrten die skelettartige und verdreckte Erscheinung voller Unglauben an, mochten wahrlich ihren Augen nicht trauen und hielten jene verwahrloste Kreatur wohl für eine Sinnestäuschung, ein gruseliges Gespenst, das nach einem Blinzeln wieder fort sein musste. Doch der Mann blieb an Ort und Stelle und beharrte auf seine Existenz, wenn er auch einem Bereich der Anstalt entflohen war, der normalerweise im Verborgenen lag.
    Hektisch und wirr raste sein Blick von links nach rechts und von vorn nach hinten durch die Tischreihen, als würde er unter den fremden Leuten ein vertrautes Gesicht suchen. Nach kurzer Zeit gab er die vermeintliche Suche auf und setzte sich schwerfällig in Bewegung. Er wollte offenbar laufen, doch konnte es nicht. Anscheinend war er zuvor gegen die versperrte Tür gerannt und hatte sich dabei das rechte Bein verletzt. Er humpelte auf dem gesunden Linken und zog das Rechte schleifend hinterher; auf diese Weise schleppte er sich vorwärts, eine gebrochene Gestalt aus Haut und Knochen, mit krummem Rücken und von oben bis unten mit jenem schwarzen, getrockneten Dreck bedeckt; er glich einem verhungernden Höhlenmenschen auf der verzweifelten Suche nach Nahrung.
    Aber schnell wurde ersichtlich, dass der junge Mann keine Verpflegung wollte, sondern nur fort von dieser Anstalt, fliehen aus diesem fensterlosen Kerker. Sein Ziel war jene Flügeltür, hinter der sich die Empfangshalle des Sanatoriums befand; er hatte fest den Blick auf sie gerichtet und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht vorwärts. Doch er hatte nicht einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt, ehe man ihn aufhielt.
    Angekündigt durch das Poltern schneller Schritte – zunächst vage, dann lauter und kurz darauf donnernd – stürmte eine Dreiergruppe schwer gebauter, kahlköpfiger Männer in weißen, kurzärmeligen Kitteln aus der Flügeltür der Abteilung Zwei; mit hastigen

Weitere Kostenlose Bücher