Die Heilanstalt (German Edition)
dass sie Patrick wiedersehen würde, wünschte sich nichts sehnlicher … und wusste doch, dass es nicht geschehen würde.
Das Wesen der Heilanstalt
Als Patricks Sinne allmählich wiederkehrten und die Vernebelung der Welt mehr und mehr verging, da war ihm, als würde er aus einem tiefen Traum erwachen, ohne dass er geschlafen hatte.
Seine Augen sahen wieder, nachdem sie erblindet waren, seine Ohren hörten, nachdem sie taub geworden waren, seine Haut wurde wieder empfindsam, nachdem sie betäubt gewesen war. Auf seiner Zunge erwachte der süße Geschmack von Marmelade, und in seiner Nase schwebte der vielfältige Geruch von Essensresten.
Patrick stöhnte und massierte sich die Schläfen; ein schummriges Gefühl erfüllte seinen Magen, und ein leichter Taumel begleitete seine wieder erwachte Wahrnehmung. Verwirrt sah er sich um und kniff die Augen zusammen, da ihn das Licht schmerzte. Der Speisesaal war leer, das Buffet war verschwunden, und die Tische waren abgeräumt. Nur bei der Teekanne waren wie üblich einige Patienten versammelt, deren heißblütiges Gezanke in Form unverständlicher Wortfetzen zu Patrick herüber scholl. Ansonsten war es still im Saal.
Patrick rieb sich die Augen und scheiterte bei dem Versuch sich zu erheben, da ein plötzlicher Schwindel ihn überkam. Unsanft plumpste er auf den Stuhl zurück und spürte, wie sein Herz vor Anstrengung raste.
»Melanie …?«
Er blickte benommen auf ihren Teller, der noch so unberührt war, wie Patrick ihn vom Buffet mitgebracht hatte. Mit verzerrtem Gesicht blickte er sich noch einmal um. Doch jene Patienten, die sich um die Kanne stritten, waren die einzig verbliebenen Menschen im Saal.
Patrick hustete trocken und fasste sich leidvoll an den Hals; er hatte wieder so furchtbaren Durst, dass seine Kehle eine einzige Feuersäule war. Erneut probierte er aufzustehen, stützte sich diesmal zusätzlich am Tisch ab und stemmte sich endlich hoch. Müde schwankte er vorwärts, intuitiv in Richtung der Kanne, und spürte beim Gehen etwas in der Seitentasche seines Gewands. Patrick griff verdutzt hinein, ertastete es mit der Hand, befühlte es, ließ es rascheln.
Ein Stück Papier …
Er dachte nach, wie es dort hineingekommen war, befragte sein Gedächtnis und verzog das Gesicht sogleich vor Schmerzen. Ein Meer aus Stecknadeln schien in seinem Kopf zu wogen, sobald er die grauen Zellen beanspruchte. Patrick beschloss, zunächst seinen Durst zu löschen, ehe er nachsah, was dort in seiner Tasche steckte. Aber natürlich war jede Erinnerung an dieses Vorhaben verloren, nachdem er einige Becher Tee getrunken hatte und in einen neuen Abgrund des Rausches hinabgestürzt war.
Während der folgenden Stunden glitt Patrick wie auf einer Welle dahin, sanft und behaglich, ohne Schmerz und Leid. Nur im Unterbewusstsein nahm er seine Umgebung wahr, die sich immerfort veränderte und geschmeidig an ihm vorüber huschte. In einem ungekannten Dämmerzustand, nicht ganz schlafend und nicht ganz wach, ließ Patrick sich treiben, blickte ab und zu auf seine Beine herab, die für ihn das Laufen übernommen hatten, und betrachtete hin und wieder seine Hände, die jederzeit einen Becher des betäubenden Tees umklammerten. Sein Blickfeld war so getrübt wie eine verschmierte Fensterscheibe, die Geräuschkulisse so gedämpft, als würde er Ohrenschützer tragen. In diesem tranceartigen Zustand besaß Patrick keinen trägen, schmerzanfälligen Leib; es war, als würde sein Geist losgelöst von jeder Körperlichkeit durch die Anstalt schweben, als flöge er auf einer Wolke oder einem unsichtbaren Teppich dahin, stets in Begleitung einer Macht aus höheren Sphären, die ihn sicher führte und wie einen schützenden Mantel umgab.
Patrick lernte andere Patienten kennen, spielte mit ihnen Darts und Billard im Unterhaltungssaal, trennte sich wieder von ihnen und machte anderswo neue Bekanntschaften. Einige Zeit verbrachte er im Hof, mal in Gesellschaft und mal allein, führte manches Gespräch, oftmals mit Frauen, zuweilen mit Männern, mitunter mit Jugendlichen und Kindern, ab und zu auch mit sich selbst.
Patrick besaß kein Zeitgefühl und auch keine räumliche Orientierung; in seinem Kopf spielten sich keine zusammenhängenden Gedanken ab, gab es keine Überlegungen, Fragen oder Antworten. Er trieb einfach dahin, voller Zufriedenheit und umwoben von Behaglichkeit, ließ sich von jener Welle leiten, die ihn verlässlich an all die schönen Orte des Sanatoriums spülte, die ihn
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