Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Geraedts
Vom Netzwerk:
hatte. So schön dieser Ort auch war, so glücklich sie sich an Patricks Seite fühlte, so gern sie Melanie Kahlbach gewesen wäre … sie war es nicht und musste all das endlich loslassen.
    Ihr wahres Leben war ein anderes, und die Welt, in der sie lebte, war geprägt von sternlosen Nächten und ewiger Dunkelheit.
    Ich hab dich lieb, Kleines , rief wieder jene vertraute Stimme in ihrer Erinnerung. Ich werde dich nicht vergessen, hörst du? Vielleicht nehmen sie mir alles andere, aber dich werde ich nicht vergessen, Judith. Niemals.
    Ja, ihr Name war Judith … Judith Ahlberg. Und das verschwommene Gesicht, aus dem die vertraute Stimme sprach, gewann nach langer Zeit wieder an Schärfe: zwei große, braune Augen voll lebhafter Aufregung; eine in Falten gelegte Stirn, in die dichtes, graues Haar fiel; markante Wangenknochen und ein Mund mit dünnen Lippen; eine Nase, die etwas schief war, da sie vor vielen Jahren einmal gebrochen worden war …
    Sie schloss die Augen und öffnete sich für ihre wahre Vergangenheit, für ihr wahres Leben, dem sie sich viel zu lange verschlossen hatte. Sie richtete den Blick auf jenen Teil ihrer Erinnerung, den sie seit ihrem Eintreffen im Sanatorium in sich vergraben hatte, und sah, dass zu jenem Gesicht auch alles andere hinzutrat: ein sehnsuchtsvoll ausgestreckter Arm, ein über den Boden schleifender Oberkörper und zusammengebundene Beine.
    Vielleicht nehmen sie mir alles andere, aber dich werde ich nicht vergessen, Judith.
    Sie sah den Mann mit dem grauen Haar und die Kreaturen, die ihn fortschleiften.
    Kreaturen, die niemals blinzelten. Kreaturen, die empfindliche Augen hatten. Kreaturen, die das Licht verabscheuten. Sie hörte den Mann ihren Namen rufen, während er in die Finsternis gezerrt wurde, jenen Mann, der ihr Vater war.
    »Papa …«
    Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, und begriff, dass sie von hier fort musste und keine weitere Minute an diesem Ort verweilen durfte; sie befand sich in einem Nest schlafender Hornissen, die sich in Schwärmen auf sie stürzen würden, sobald sie ihrer gewahr würden. Von Wallenstein hatte sie bereits im Visier; er ahnte, dass Melanie nicht ins Programm des Sanatoriums integriert war, ahnte, dass sie von der Welt jenseits dieser Mauern wusste, ahnte, dass sie sich erinnerte .
    Sie musste fliehen, ehe man sie gewaltsam in die Zweite Abteilung verfrachtete.
    Sie erhob sich, ohne ihren Teller angerührt zu haben, und verhielt sich dadurch zusätzlich verdächtig; die eifrigen Teekonsumenten zeigten sich stets überaus hungrig. Aber es erschien ihr gegenwärtig unmöglich, auch nur einen Bissen herunter zu bekommen, es fiel ihr schon schwer, die nötige Atemluft in die Lungen zu pressen.
    Sie richtete den Blick auf Patrick, der inzwischen zu essen begonnen hatte, aber noch immer in einem tranceartigen Zustand versunken war. Mit leeren Augen, die starr nach vorn gerichtet waren, anstatt auf den Teller, schob er mit der Gabel ein Brötchen hin und her, stocherte anschließend in einem Püfferchen herum und steckte ab und zu etwas in den Mund, um es mechanisch zu zerkauen. Sie schluckte schwer, als sie ihn so sah, und wieder kam ihr der vorwurfsvolle Gedanke, dass sie ihn davor hätte bewahren können, dass sie ihn gleich heute Vormittag vor dem Tee hätte warnen können, wenn sie nur früher die Wahrheit hätte einsehen wollen. Sie hätten gemeinsam fliehen, gemeinsam fortrennen können. Doch jetzt vermochte sie allenfalls noch sich selbst zu retten, während Patrick hoffnungslos verloren war.
    Sie kniete neben ihm nieder und legte ihren Mund an sein Ohr. »Ich muss jetzt gehen. Ich wünschte, ich hätte dich näher kennenlernen können und deinen wahren Namen erfahren.«
    Sie sah ihn traurig an und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. In der Mitte des Tisches standen eine kleine Schachtel mit Bewertungsbögen bezüglich des Buffets sowie ein Topf mit Kugelschreibern. Sie nahm einen Bogen, drehte ihn herum und beschrieb die leere Rückseite. Dann faltete sie das Papier einige Male und steckte es in die Seitentasche von Patricks Gewand.
    »Lies es allein in deinem Zimmer, bei möglichst klaren Sinnen«, flüsterte sie. »Mehr kann ich nicht für dich tun.«
    Sie schluchzte und küsste seine Wange. »Bitte verzeih mir.«
    Dann stand Judith auf und ging, ohne sich noch einmal zu ihm umzuwenden. Sie hoffte, dass ihr die Flucht gelänge, hoffte, dass sie draußen Hilfe fände und zurückkehren könnte. Sie hoffte,

Weitere Kostenlose Bücher