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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Geraedts
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mal hier und mal dort absetzte, die niemals verebbte, aber auch nie zu sehr stürmte. Wie auf einem ruhigen Fluss glitt Patrick vorwärts, an dessen Ufern zu beiden Seiten die wunderbarsten Dinge anzusehen waren, einem Fluss, der in einem endlosen Bett auf einen unerreichbaren Horizont zuführte. Und Patrick fühlte, dass dieser Fluss, auf dem er trieb, dass diese Welle, die ihn trug, das Wesen der Heilanstalt war. Es verschmolz die Tage mit den Nächten und strickte aus ihnen einen roten Faden der Zeit, der die Menschen verband und wie Papierboote ein Rinnsal hinabtreiben ließ, ganz gemächlich und immerfort in dieselbe Richtung. Wie aus einer unversieglichen Quelle sprudelten Glück und Wohlbefinden aus dem Inneren des Sanatoriums, einem unerschöpflichen Füllhorn gleich ergoss es Frische und Gesundheit auf die weiß gekleideten Gäste, hielt sie stets beisammen und sandte sie auf eine gemeinsame Reise. Und schließlich erkannte Patrick doch, dass die Welle nicht endlos und die Bewegung des Flusses nicht ewig war, denn das gemeinsame Ziel der Patienten war natürlich die Heilung.
    Patrick staunte über diese meisterhafte Einrichtung und war erfüllt von Dankbarkeit, dass er ihr angehören durfte, fest mit ihr verbunden und in einem Boot mit all den anderen Glücklichen.
    Hin und wieder überkam ihn ein eigenartiges Gefühl des Verlustes, als wäre ihm etwas Bedeutendes abhandengekommen; manchmal steigerte es sich zu einem schmerzlichen Vermissen, als wäre ein geliebter Mensch aus seinem Leben geschieden. In jenen Momenten drehte Patrick suchend den Kopf umher, ohne zu wissen, nach wem er Ausschau hielt, und dachte er näher darüber nach, wer es sein mochte, so schienen sich rostige Nägel durch seine Stirn zu bohren. Rasch musste er dann den Becher an die Lippen heben, um einen kräftigen Schluck des himmlischen Tees zu trinken und die Schmerzen wieder verschwinden zu lassen.
    Der Tee … zweifellos bildete er das Kernstück im Wesen der Heilanstalt; kein fortwährendes Fließen wäre denkbar ohne ihn, kein sanftes Treiben möglich ohne seine wundergleiche Wirkung. Mehr denn je verstand Patrick die Worte von Wallensteins, der ihn als Geheimrezept des Hauses angepriesen hatte.
    Wie ein Schlafwandler spazierte Patrick auch noch zu fortgeschrittener Abendstunde umher, gänzlich in jenem heilsamen Rausch versunken, bis die Lichter im Sanatorium sich so langsam und bedächtig abschwächten wie eine untergehende Sonne. Die Scheinwerfer im Wandelgarten sowie jene im Schwimmbad, die wärmenden, roten Lampen im Erholungsbereich, die Deckenleuchten in der Turnhalle, die Beleuchtung im Unterhaltungssaal, die verborgenen Lichter im großen Hof sowie die prachtvollen Kronleuchter im Speisesaal: All die künstlichen Lichter der Anstalt ließen ganz allmählich nach, um den natürlichen Vorgang der Dämmerung nachzuahmen. Am authentischsten wirkte diese Inszenierung im Hof, wo die alte Linde mehr und mehr ihre Farben verlor, bis sie nur noch ein graues Gebilde war, derweil die Decke sich scheinbar in einen schwarzen Nachthimmel verwandelte und der Gesang der Vögel immer leiser wurde, um letztlich zu verstummen. Die Nacht brach an, wie sie unter freiem Himmel anzubrechen pflegte, und die Patienten sogen die Illusion gierig in sich auf, um zu vergessen, dass sie in einem fensterlosen Gebäude eingekerkert waren.
    Bevor die Lichter vollends erloschen und nur Finsternis verblieb, ertönte der Gong; diesmal nicht, um die Gäste zu einem wohl bereiteten Mahl in den Speisesaal zu rufen, sondern um die Bettzeit einzuläuten, die pflichtgemäß im privaten Zimmer zu verbringen war.
    Die weißen Gewänder – im Halbdunkel nur noch graue Silhouetten – setzten sich gleichförmig in Bewegung und machten sich auf den Weg zur Flügeltür der Abteilung Eins. Wie Gespenster huschten sie jenseits durch das Zwielicht des langen Flures, allerdings nicht spukhaft leise, sondern mit einem bebenden Getöse; es wurde gelacht, geplaudert, gegrüßt und verabschiedet, Schlösser sprangen auf, Türen quietschten, öffneten sich und schlugen krachend wieder zu. Patrick trieb im Strom, wie er es schon den ganzen Abend lang getan hatte, und ließ sich von jener besonderen Welle treiben, die aus der Tiefe des Sanatoriums hervorging. Zwar waren es die Patienten, die die Welle sichtbar machten, die ihr Form und Gestalt verliehen, doch war es allein die Heilanstalt, die regelmäßig kleine Steine in den stillen See warf, um stets eine neue Welle

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