Die Heilanstalt (German Edition)
seinem Kopf ein Wirrwarr einander überlagernder Formen und Muster, fühlte Lichter und Farben, hörte Stimmen und Geräusche, sah Bilder, die sich übereinander blätterten und wie ein Daumenkino die Illusion der Bewegung erzeugten. Ein Meer an Eindrücken wallte in seinem Inneren, das im ersten Moment fremd war und im nächsten schon vertraut; es überflutete seinen Geist, verdeckte Vorhandenes, verdrängte Ursprüngliches.
Sollten Sie beim morgigen Frühstück Ihre Bekanntschaft vermissen …
Patricks Knie wurden weich und drohten einzuknicken. Träge bewegte er die Zunge im Mund.
»Mel… Mela…«
Der nächste Speichelfaden riss und tropfte zu Boden. Unbewusst griff er von außen an die Seitentasche seines Gewands, fuhr mit der Hand darüber, befühlte den Inhalt, ließ es knistern und rascheln.
Lies es allein in deinem Zimmer, bei möglichst klaren Sinnen …
»Mel… Me…«
Patrick wollte die Erinnerung festhalten, die Erinnerung an jene junge Frau, die er heute kennengelernt hatte, die Erinnerung an die Heilanstalt, an den gesamten Tag, wollte sich an sie klammern und am Leben erhalten … doch die alten, die echten Bilder verblassten, verloren ihre Farben und Formen und gingen so unwiederbringlich verloren wie ins Meer geworfene Edelsteine.
Übrig blieben nur jene anderen, neuen Erlebnisse, die falsch waren, die in seinem Kopf nichts zu suchen hatten, die erlogen waren, erdacht und erfunden. Patrick spürte, was mit ihm vorging, doch konnte es nicht verhindern.
Er schluchzte; Tränen liefen an seinen Wangen herab … und nur einen Augenblick später wusste er nicht mehr, weshalb er weinte.
Fremde Augenblicke
»Guten Morgen, verehrte Gäste der Ersten Abteilung!«
Er riss die Augen auf und fuhr hoch. Im ersten Moment war sein Kopf leer; er wusste nicht, wo er war, wusste nicht, wer er war. Sein Herz pochte hart und schnell in der Brust, getrocknete Spucke klebte an seinem Kinn.
»Hatten Sie eine angenehme Nachtruhe? Wir hoffen es und möchten Sie einladen, in einer halben Stunde, zum Signalton, unser köstliches Frühstücksbuffet …«
Er kräuselte die Stirn. Die Stimme der Lautsprecherdurchsage war ihm bekannt, er hatte sie kürzlich erst gehört. Er wischte sich den Schlaf aus den Augen und sah sich um. Dieses Zimmer war ihm vertraut, er wachte nicht zum ersten Mal hier auf; er kannte die Einrichtung, das Mobiliar, das Waschbecken mit dem ovalen Spiegel darüber, den zweiflügligen Schrank neben der Eingangstür, die weißen Rosen auf der Kommode, die rauschende Belüftungsanlage in der Decke.
»Hat Ihnen das gestrige Wasseraerobic gefallen? Auch heute wird es unserer fachkundigen Trainerin eine Freude sein, Ihren Körper und Geist zu beleben, selbe Zeit, selber Ort! Darüber hinaus …«
Ganz allmählich dämmerte ihm; er spürte, wie sein eingefrorenes Gedächtnis endlich auftaute.
»Über Ihre rege Teilnahme am Tischtennisturnier haben wir uns sehr gefreut! Dem Siegerpaar, Herrn Liebknecht und Frau Alberts, noch einmal einen herzlichen Glückwunsch! Heute haben Sie Gelegenheit, sich im Volleyball zu messen! Begeben Sie sich dazu um 15 Uhr in die Turnhalle und beweisen Sie Ihr Talent im …«
Dann war plötzlich alles wieder da; ein Strudel von Bildern und Geräuschen rotierte in seinem Gedächtnis, wo den ganzen gestrigen Tag nur ein schwarzes Loch geklafft hatte. Die Erinnerungen kreisten zunächst noch wirbelsturmartig in seinem Kopf, doch fügten sich rasch zu einem aufschlussreichen Gesamtbild. Erleichtert prustete er den angehaltenen Atem aus und ließ sich lächelnd ins Bett zurückfallen. Er war Patrick Baumgartner, 25 Jahre alt, hatte eine bescheidene, aber nette Wohnung nahe seinem Geburtsort Eschenheim, arbeitete seit einem Jahr als Feuilletonist für eine kleine Tageszeitung, nachdem er das Studium der Germanistik abgeschlossen hatte. Er spielte für sein Leben gern und schon seit frühster Jugend Bowling, war zurzeit ohne Beziehung, woran seine ärgerliche Schüchternheit schuld war, und hatte aus demselben Grund einen eher überschaubaren Bekanntenkreis. Sein bester Freund hieß Marco Wittmeier, ein mäßig erfolgreicher Schriftsteller von Regiokrimis, über den Patrick einen seiner ersten Zeitungsbeiträge geschrieben hatte, ein eigensinniger und launischer, aber überaus sympathischer Typ, der Patrick seit einer gefühlten Ewigkeit mit wahllos aufgelesenen Frauen zu verkuppeln versuchte. Patrick hatte eine jüngere Schwester, Jennifer, die gerade ihr Abitur
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