Die Heilanstalt (German Edition)
Bewegung, presste sie mit aller Kraft gegen den Gaumen und erweckte sie ein wenig aus ihrem Tiefschlaf. »Erinnern …«, lallte er und tippte sich mit verzweifelter Miene an die Schläfe. »Kann mich … nicht erinnern.«
Von Wallenstein blieb zunächst stumm; Patrick hob mühsam den Kopf, um den Therapeuten anzusehen, doch er vermochte dessen Gesicht immer noch nicht klar zu erkennen. Nur, dass dort kein Lächeln mehr war, sah er deutlich.
»Unsere fremde Luft, Herr Baumgartner. Viele empfinden die Umstellung als beschwerlich, gewiss, Sie machen keine Ausnahme.«
Patricks verschwommenes Blickfeld füllte sich vollständig mit dem weißen Kittel des Therapeuten: Von Wallenstein hatte sich unmittelbar vor ihn gestellt. Er kramte in einer Seitentasche seines Kittels, zog etwas heraus und hielt es Patrick auf der offenen Handfläche hin.
»Nehmen Sie sie vor dem Schlafengehen, Herr Baumgartner, und Sie werden sehen, schon morgen früh wird es Ihnen weitaus besser gehen. Sie hilft Ihnen bei der Gewöhnung an die neuen Verhältnisse, ohne Zweifel, sie hat schon vielen Neuankömmlingen einen guten Dienst erwiesen.«
Patrick beugte sich nach vorn und starrte angestrengt auf von Wallensteins Handfläche. Eine längliche Kapsel ruhte dort, von einem wunderlichen Blauschimmer umgeben, ähnlich dem Leuchten des Tees, gleichsam hypnotisch. Das blaue Licht spiegelte sich in Patricks getrübten Augen, die ganz darin gefangen waren. Zaghaft nahm er die Pille zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete sie mit verträumtem Blick.
»Nur zu, Herr Baumgartner, sie tut ihre Wirkung. Spülen Sie sie mit einem kräftigen Schluck unseres Haustees hinunter und Sie werden himmlisch träumen und in aller Frische erwachen.«
Patrick lächelte schief und starrte noch eine kurze Weile auf die Kapsel, genoss ihr blaues Schimmern, bewunderte ihre zauberhafte Aura. Dann steckte er sie in den Mund und schenkte sich einen Becher Tee ein. Er setzte ihn wackelig an die Lippen und schluckte den Tee mitsamt der Pille hinunter. Sofort spürte Patrick, dass in seinem Kopf etwas vorging; ein warmer Fluss strömte hinter seiner Stirn, etwas wurde in seinem Verstand verrückt, beiseitegeschoben, durch etwas anderes ersetzt; ein Schwindel kam über ihn. Patrick glaubte einen Moment lang, ihm sei eine Ader geplatzt, spürte frisches Blut, das an Stellen floss, wo es nicht hingehörte. Es tat nicht weh, aber es fühlte sich fremd an, abnorm und falsch. Dann war das Gefühl vorüber; doch der befremdliche Eindruck, dass etwas in seinem Inneren sich gewandelt, unumkehrbar verändert hatte, blieb bestehen.
Von Wallenstein hatte den Vorgang mit Begeisterung verfolgt.
»Schön, Herr Baumgartner, vorbildlich! Nur weiter so und Ihre Heilung lässt nicht mehr lange auf sich warten.«
Patrick grinste, derweil ihm abermals ein Speichelfaden aus dem Mund lief. Von Wallenstein musterte seinen Vorzeigepatienten noch einen Augenblick lang zufrieden und schritt dann zurück zur Tür, in der er sich noch einmal umdrehte.
»Oh, im Übrigen. Sollten Sie beim morgigen Frühstück Ihre Bekanntschaft vermissen – jene junge Dame, die ich heute an Ihrer Seite sah –, so darf ich Ihnen zu meiner Freude mitteilen, dass sie inzwischen die Erste Abteilung verlassen und in die Zweite gewechselt ist. Sie wissen es noch nicht: Dort finden unsere Patienten ihre letzte Heilung. Es ist ein ganz bezaubernd eingerichteter Teil unseres Hauses, wo ein Mensch gar nicht anders kann , als vollständig zu gesunden. Auch Sie werden schon bald dorthin überführt werden, Herr Baumgartner, wenn Sie weiterhin so musterhaft voranschreiten, auch Sie werden Ihre Heilung in absehbarer Zeit erleben. Aber mehr dazu morgen, ich sehe, Sie sind allzu müde. Begeben Sie sich zu Bett, ruhen Sie sich aus; der erste Tag strengt stets am meisten an, es ist ganz gewöhnlich, den wenigsten ergeht es anders. Gute Nacht, Herr Baumgartner, schlafen Sie ruhig und erholsam! Und immer weiter, stetig vorwärts zur Genesung, ich bin sehr zufrieden mit Ihnen – Ihr Fortschritt ist bemerkenswert!«
Von Wallenstein lachte ein letztes Mal, bevor er in den finsteren Flur hinaustrat und die Tür ins Schloss zog. Die Stille kehrte zurück, doch sie war anders als zuvor. Patrick hörte sein Herz schlagen und sich selbst atmen. Der Speichelfaden bahnte sich von seiner Unterlippe einen Weg zum Boden, zog sich immer weiter in die Länge und riss schließlich ab, um Platz für einen neuen zu machen.
Er spürte in
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