Die Heilanstalt (German Edition)
täuschen euch, sie täuschen alle hier! Besinnt euch, ich flehe euch an, erinnert euch, wer ihr wirklich seid, erinnert euch an die Welt außerhalb dieses Käfigs!«
Von Wallenstein streichelte Janicks Wange und machte einen beruhigenden Zischlaut.
»Es wird alles gut, Herr Baumgartner, glauben Sie mir« Er zog einen benetzten Lappen aus der Außentasche seines Kittels. »Bislang haben wir noch keinen Patienten aufgegeben. Auch Sie werden wir heilen, das verspreche ich.«
Janick versagten die Worte. Er schluchzte und rüttelte mit den Armen und Beinen an den Lederschlaufen, obwohl er wusste, dass es kein Entkommen mehr gab.
»Ganz ruhig«, flüsterte von Wallenstein und presste Janick den feuchten Lappen auf Mund und Nase. Dieser wehrte sich noch einen Augenblick lang, stöhnte und schüttelte sich wie in einem epileptischen Anfall, doch wurde immer langsamer und stiller, als das Anästhetikum zu wirken begann. Janick spürte, wie die Kraft aus seinem Körper wich und seine Sinne schwanden. Die Umgebung verschwamm, die Geräuschkulisse ließ nach, und seine Augen fielen zu.
»Seien Sie unbesorgt, Herr Baumgartner«, hörte er von Wallensteins Stimme zuletzt wie ein leises Echo widerhallen. »Auch Sie werden den Weg zur Heilung finden.«
Dann verlor Janick das Bewusstsein und sank hinab in die Schattenwelt der Ohnmacht, wo es kein Licht und keine Träume, weder Trost noch Hoffnung gab.
Zweiter Teil: Hinter den Kulissen
Die Wahrheit spricht mit leiser Stimme.
(Robert Spaemann)
Das Ritual der Verbannung
Thomas dreht sich in der gusseisernen Tür noch einmal um und ist sichtlich verärgert über das Zögern seines kleinen Bruders.
Komm schon, Feigling! , spricht seine ungeduldige Miene.
Janick kaut nervös auf der Unterlippe. Wie oft hat Mutter ihnen eingebläut, dass der Frontsektor für Kinder streng verboten sei? Ganz zu schweigen vom Außentor. Die Wächter würden sie windelweich prügeln, wenn sie sie erwischten, und anschließend täte Mutter das Gleiche. Zu gegebener Zeit, wenn sie alt genug seien, es zu begreifen, werde sie ihnen erzählen, wie die Welt vor dem Tor aussehe, und ihnen erklären, weshalb zu Beginn jedes Monats jemand hinausgeschickt werde.
Thomas, der für sein Alter ungewöhnlich reif ist, gibt sich mit diesem Versprechen schon lange nicht mehr zufrieden. Er ist erst zwölf, doch besitzt er schon jetzt jene kritischen Züge, aus denen sich in späteren Jahren sein Wille zum Widerstand herausbilden wird.
»Wir haben das Recht zu erfahren, was dort draußen ist!«, erklärt Thomas wie ein Erwachsener, während der neunjährige Janick ihn halb erschrocken und halb bewundernd ansieht. »Mama kann es uns nicht verbieten! Niemand kann das! Ich gehe jetzt zum Tor und finde heraus, was mit den Verbannten passiert. Komm mit oder bleib hier!«
Thomas dreht sich wieder um und verlässt die kleine Kabine. Und tatsächlich geht er rechts den Flur entlang, in Richtung des streng verbotenen Vorderbereichs. Janick folgt ihm unbehaglich auf den schmalen Korridor hinaus, der wie alles hier aus nacktem Eisen besteht.
»Mama hat gesagt, dort ist es gefährlich!«, ruft er seinem großen Bruder nach.
»Komm mit oder bleib hier«, wiederholt Thomas nur, ohne sich noch einmal zu ihm umzuwenden.
Janick schluckt und fühlt sich hin und hergerissen. Einerseits fürchtet er Mutters Strafe und die Prügel der Torwächter. Andererseits weiß er, dass Thomas ihn bis an sein Lebensende als Angsthasen verhöhnen würde, wenn er jetzt in der Kabine bliebe; eine Vorstellung, vor der ihm mehr graut als vor der schlimmsten Prügelstrafe. Daher beschließt er, seinem Bruder zu folgen, wenn auch mit einem unguten Gefühl. Als Janick ihn einholt und an seiner Seite erscheint, hält Thomas den Blick starr nach vorn gerichtet, als würde er seinen kleinen Bruder nicht bemerken. Doch für einen kurzen Augenblick lässt er ein zufriedenes Lächeln über die Lippen huschen, das Janick mit Stolz erfüllt. Auf einmal steht für ihn ohne Zweifel fest, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat. Zugleich denkt er zu seiner Beruhigung, dass sie bestimmt früh genug zurück sein würden, um Mutter den verbotenen Ausflug zu verheimlichen. Heute werden im hinteren Bereich der Siedlung die Lebensmittel verteilt – neben dem Ritual der Verbannung geschieht auch dies stets am ersten Tag des Monats –, und die Warteschlange vor der Essensausgabe ist jedes Mal so lang, dass Mutter mehrere Stunden dort verbringt, ehe sie mit
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