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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Geraedts
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handelt sich um zwei uniformierte Männer, die eine alte Frau zum Außentor nötigen.
    »Das sind die Torwächter«, sagt Thomas und verzieht das Gesicht vor Abscheu. »Diese Frau wollen sie offenbar aus der Siedlung verbannen.«
    Janick schüttelt den Kopf und hält Tränen zurück. »Warum tun sie das?«
    »Wir werden es heute herausfinden.«
    Als die Wächter und die Frau ihnen den Rücken zukehren, verlässt Thomas gebückt das Versteck, um weiter in die Halle vorzudringen.
    »Wohin willst du?«, zischt Janick.
    Aber sein Bruder beachtet ihn nicht und rückt leise und geschwind weiter vor. Er durchquert die gesamte Halle und kauert sich schließlich hinter einigen aufgestapelten Fässern in unmittelbarer Nähe des Tors nieder. Dort dreht er sich zu seinem kleinen Bruder um und gibt ihm ein Handzeichen, ihm zu folgen. Janicks Herz rast; er verharrt noch einen Augenblick hinter den Kisten und nimmt dann seinen ganzen Mut zusammen, um zu Thomas aufzuschließen. Während Janick vorwärts schleicht, behält er ängstlich die Wächter im Auge. Die uniformierten Männer sind zu sehr mit der Frau beschäftigt, um den Jungen zu bemerken; sie schreit und windet sich in ihrem Griff.
    Janick erreicht schnaufend seinen Bruder und hockt sich neben ihm nieder.
    »Was machen sie mit ihr? Was passiert jetzt?«
    Thomas antwortet nicht und legt stattdessen den Zeigefinger auf die Lippen, während er durch die Zwischenräume der aufgestapelten Fässer starrt. Die alte Frau versucht vergeblich sich von den Torwächtern loszumachen und schreit in Todesangst. Einer der Wächter tippt eine Zahlenkombination in ein Tastenfeld ein, das unterhalb der riesigen Schlossvorrichtung ins Tor eingebaut ist. Der zweite Wächter tritt unruhig von einem Bein aufs andere, als würde seine Blase drücken.
    »Keine Angst, sie wollen uns nichts Böses«, sagt der erste Wächter mit bebender Stimme.
    Der zweite Wächter nickt mit einem nervösen Lächeln. »Es heißt, sie bringen die Menschen an einen paradiesischen Ort, wo es Speisen und Getränke im Überfluss gibt.«
    Die Frau hört den Männern nicht zu oder will ihnen keinen Glauben schenken; sie schluchzt, kreischt und wehrt sich nach allen Kräften. Doch schon bald ist sie zu erschöpft, um weitere Gegenwehr zu leisten, und fügt sich verzweifelt in ihr Schicksal. Sie murmelt einige Worte vor sich her, die wie ein Gebet klingen, während Tränen an ihrem Gesicht hinab laufen.
    Janick sieht seinen Bruder entsetzt an; er kann nicht begreifen, was vor sich geht und mag kaum noch hinsehen. Thomas erwidert seinen Blick nicht und schaut stattdessen aufmerksam nach vorn. Die Wächter halten die alte Frau weiterhin fest und wechseln einen ernsten Blick. Dann nicken sie einander unwohl zu, woraufhin der Mann am Tastenfeld mit zitterndem Zeigefinger einen Knopf drückt, um seine Eingaben zu bestätigen. Sofort ertönt eine ohrenbetäubende Sirene, und eine rote Warnlampe beginnt über dem Tor zu blinken. Die gewaltige Schlossvorrichtung setzt sich dröhnend in Bewegung und benötigt etwa eine Minute für eine halbe Umdrehung gegen den Uhrzeigersinn. Dann herrscht einen kurzen Augenblick eine gespenstische Stille; nur das Wimmern der alten Frau ist noch zu hören. Kurz darauf hebt sich das Tor mit einem schweren, mechanischen Brummen.
    Die Brüder starren atemlos durch die Lücken zwischen den Fässern und wissen, dass sie in wenigen Sekunden erstmals die Welt jenseits der Siedlung erblicken werden. Kaum hat sich ein Spalt zur Außenwelt aufgetan, fegt ein kalter Wind herein, der sich wie Rasierklingen ins Fleisch zu schneiden scheint. Janick und Thomas kneifen die Augen zu und schlingen sich beide Arme um den Oberkörper.
    Die Frau sinkt mit wehendem Haar ein wenig nieder und formt ihre Beine zu einem X. Ob sie etwas sagt, ist unmöglich auszumachen; selbst Schreie würden im Poltern des Tors untergehen. Als es etwa drei Meter hinaufgefahren ist, kommt das Tor mit einem donnernden Ruck zum Stehen. Zunächst ist dort draußen nichts zu erkennen; eine undurchdringliche Schwärze liegt jenseits der Siedlung. Erst als ihre Augen sich allmählich an die Düsternis gewöhnen, erkennen die Brüder Umrisse im Zwielicht. Nackte Felsen ragen nahe der Siedlung aus dem Boden, der aus rauen Kieseln besteht. Unweit fließt ein Bach in einem schmalen Bett. Die Wolkendecke ist nicht völlig schwarz, sondern glimmt an manchen Stellen in einem schwachen Orange, als würde hinter der brodelnden Wolkenmasse die Sonne scheinen.

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