Die Heilanstalt (German Edition)
einigen gefüllten Säcken zur Kabine zurückkehrt.
Schweigsam marschieren sie den langen, menschenleeren Flur hinab; die meisten haben sich, so wie Mutter, bereits zur Ausgabestation begeben, obwohl es noch mindestens zwei Stunden dauern wird, bis die Vorräte herausgegeben werden. Die restlichen Siedler verbringen den freien Tag in ihren Kabinen, da es schlicht nicht lohnt, sie zu verlassen. Es gibt hier keine Unterhaltung, nur Kälte und Kunstlicht, von dem die Augen schmerzen.
Janick hat sich noch nie zum Vorderbereich der Siedlung begeben, sondern kennt nur den hinteren Sektor, wo sich auf verschiedenen Stockwerken die Schule, die Gemeinschaftsräume und die Kantine befinden. Mit jedem Schritt in Richtung des verbotenen Bereichs wächst sein Unbehagen. Er blickt über die Schulter in den weiten Gang zurück und weiß schon nicht mehr, wie weit sie gelaufen sind; die Tür ihrer Kabine ist in der Ferne scheinbar mit den benachbarten verschmolzen. Janick hat Angst, sich zu verlaufen, und sieht seinen Bruder besorgt an. »Kennst du den Weg zum Außentor?«
»Klar, ich war schon oft dort unten. Aber noch nicht am Tag der Essensausgabe, verstehst du?«
Janick nickt zaghaft; es ist ein offenes Geheimnis, dass am ersten Tag des Monats nicht nur frische Nahrung verteilt, sondern auch das Ritual vollzogen wird. Doch Letzteres wird seit jeher totgeschwiegen. Wer die Verbannung erwähnt, erntet böse Blicke. Wer wiederholt von ihr spricht, riskiert die soziale Isolation. Wer gegen sie protestiert, wird selbst hinausgeschickt. Die Siedler wollen von der Außenwelt nichts hören und nichts sehen; schon der Gedanke an das, was dort draußen in der Finsternis lauert, sorgt für Angst und Schrecken. Jeder weiß, dass die Führerschaft die Essensausgabe nutzt, um vom Verbannungsritual abzulenken. Doch diese Ablenkung wird nicht kritisiert, sondern dankbar angenommen.
Diese Unmoral des Wegsehens und Weghörens begreift der zwölfjährige Thomas bereits mit seinem kindlichen Verstand, obwohl er bislang noch keine Verbannung beobachtet hat und daher nur erahnen kann, mit welcher Unmenschlichkeit sie einhergeht. Heute soll sich dies ändern, und angesichts seines entschlossenen Schrittes scheint der Junge zu ahnen, dass ihm ein einschneidendes Erlebnis bevorsteht.
Der Flur endet mit dem schmalen Schiebetor eines Aufzugs. Thomas muss sich weit hinauf recken, um an die Ruftaste heranzukommen; ihm ist schon vor langer Zeit aufgefallen, dass die Siedlung für Kinder völlig ungeeignet ist, als wäre ihren Erbauern niemals in den Sinn gekommen, dass hier einst Familien leben würden, ja als wäre dieser Gebäudekomplex ursprünglich zu einem ganz anderen Zweck errichtet worden. Diese und ähnliche Fragen beschäftigen Thomas sehr, während die meisten Siedler Gedanken dieser Art unterdrücken und bloß froh sind, am Leben zu sein. Janick bewundert seinen großen Bruder für seine Andersartigkeit, auch wenn er sich derzeit überaus unwohl an dessen Seite fühlt. Ängstlich starrt er auf den Lift, der in diesem Moment surrend zu ihnen hinauffährt.
»Wir dürfen den Aufzug auf dieser Seite nicht benutzen«, sagt er schüchtern.
»Klar dürfen wir«, widerspricht Thomas mit einem verschmitzten Grinsen. »Solange wir uns nicht erwischen lassen.«
Als der Lift sich mit einem Klingeln öffnet, tritt Thomas ein und hält im Inneren einen Arm zwischen die Tür. Mit hochgezogenen Brauen sieht er seinen kleinen Bruder an.
Komm mit oder bleib hier , fordert Thomas ihn wieder auf, diesmal ohne Worte, aber durch seinen erwartungsvollen Blick in gewisser Weise noch eindringlicher als zuvor. Janick weiß, dass dies seine letzte Möglichkeit zur Flucht ist, seine letzte Chance, zur Kabine zurückzukehren, unter die Bettdecke zu kriechen und eins seiner abgegriffenen Comicbücher zu lesen, die er längst auswendig kennt. Wenn der Fahrstuhl einmal mit ihm an Bord auf dem Weg nach unten ist, wird es kein Zurück mehr geben. Janick fürchtet sich, doch nach wie vor möchte er vor seinem Bruder nicht als Feigling dastehen; mit zusammengepressten Lippen betritt er schließlich den Aufzug. Wieder legt sich für einen kurzen Moment ein Lächeln auf das Gesicht seines großen Bruders. Janick bemerkt es auch diesmal und fühlt erneut eine warme Welle des Stolzes durch sein Inneres gleiten. Thomas zieht eine flache Schlüsselkarte aus der Hosentasche und hält ihren Magnetstreifen unter ein Lesegerät; ein elektronisches Piepsen ertönt, woraufhin er die
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