Die Heilanstalt (German Edition)
sich befreien. Doch er sah nach einer kurzen Weile ein, dass sein Bemühen sinnlos war. Janick atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen. Er musste plötzlich an Judith denken und hoffte, dass wenigstens ihr die Flucht gelungen war. Auch dachte er an seinen Bruder, den er nicht gefunden hatte, und fragte sich, ob er noch einmal die Siedlung verlassen würde, um ihm in die Dunkelheit zu folgen.
Ja, das würde ich , dachte er sofort und verspürte in seinem Inneren die tröstliche Gewissheit, dass er genau das Richtige getan hatte. Er war kein Feigling; er war Thomas gefolgt, so wie damals, als sie noch Kinder gewesen waren und sich heimlich zum Außentor geschlichen hatten.
Lieber ein kurzes Leben in Würde als ein langes in Demut , dachte er und wusste, dieser Satz hätte seinem Bruder gefallen. Und hatte sein Mut ihn nicht auch zu jener Frau geführt, für die er die stärksten Gefühle seines Lebens empfand? Gefühle, die mächtiger waren als alles, was Janick bis dahin erlebt hatte, kraftvoller als die Hypnosewirkung des türkisfarbenen Gifts.
An mein Inneres seid ihr nicht herangekommen , dachte Janick mit einiger Genugtuung. Die Kreaturen hatten seinen Verstand nicht in ihre Gewalt gebracht, hatten seinen Geist weder dauerhaft umnebelt noch zergliedert. Janicks Gefühle für Judith waren ihren illusionären Kräften überlegen, sein wahres Empfinden hatte ihre Scheinwelt überwunden. Eine warme Welle des Stolzes glitt durch Janicks Magengrube, und ein sanftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
»Ah, Sie schmunzeln, Herr Baumgartner«, bemerkte von Wallenstein. »So scheint Ihnen nun doch aufzugehen, welches Glück Ihnen bevorsteht, ja uns allen!«
Er beugte sich tief über Janick und flüsterte: »Sind Sie bereit emporzusteigen? Bereit in ihr ewiges Reich aufzufahren? Seien Sie unbesorgt um Ihren Leib, der ohnehin zu vermodern bestimmt ist. Ihr Geist wird bis in alle Zeit fortbestehen, droben in ihrer Welt, in die sie schon so viele von uns aufgenommen haben. Nur noch ein wenig Geduld, Herr Baumgartner, sie sind in Kürze bei uns, ja sie werden jeden Augenblick …«
Von Wallenstein verstummte, als es plötzlich drei Mal laut an der eisernen Tür pochte. Die ganze Zeit über hatte er in der Aufregung großer Vorfreude gesprochen, doch jetzt verlor sich die Farbe in seinem Gesicht, und Furcht stahl sich in seine Mimik. Seine milchigen Augen waren so schreckgeweitet und erstarrt wie die eines Erschossenen. Von Wallensteins Mund zitterte unter dem grauen Schnurrbart und öffnete sich ein wenig, so als wollte er noch etwas zu Janick sagen. Doch er blieb stumm und wandte sich von seinem ehemaligen Lieblingspatienten ab, um zur Tür zu schreiten. Einen Moment lang verweilte er unschlüssig vor ihr und stöhnte, als hätte er Magenschmerzen. Dann öffnete er mit einer raschen Bewegung, so wie man einen faulen Zahn zieht, ehe man es sich anders überlegt.
Bestrafung
Jenseits der Tür erstreckte sich ein dunkler Flur, von dem eine schneidende Kälte hereindrang. Janick spürte, wie sich Gänsehaut auf seine Arme legte. Ein Schatten in Menschengestalt verharrte dort draußen, schweigend und bewegungslos. Zwei rote Augen glühten in seinem Kopf, ohne zu blinzeln, und starrten am Therapeuten vorbei auf Janick. Einen gespenstischen Moment lang herrschte Stille, nicht der geringste Laut war zu hören. Dann sprach aus dem Schattenbild eine dämonisch düstere Stimme, so kalt und gefühllos wie das Säuseln eines eisigen Windes in einer rauen Winternacht.
»Dies ist also Ihr gelobter Vorzeigepatient. Wie ich sehe, ist er noch ganz an die greifbaren Formen der Körperlichkeit gebunden. Sein Blick ist klar und rein. Eine Erhöhung des Geistes ist nicht im Ansatz zu erkennen.«
Der Schatten hielt inne und richtete seine glühenden Augen auf den Therapeuten. »Ist dies Ihr Begriff eines musterhaften Heilungsfortschritts, Herr von Wallenstein?«
Der Therapeut räusperte sich und stand unruhig in der Tür. »Nein, wahrlich, sofern Sie mir eine Erklärung erlauben wollen, möchte ich Ihnen versichern, dass – nun, im Falle des Herrn Baumgartner war nur schwer zu erkennen, ja schier unmöglich abzusehen …«
»Dies ist bereits Ihre dritte Fehldiagnose binnen weniger Tage, Herr von Wallenstein«, sprach die Stimme aus dem Schattenriss. Die Gestalt kam langsam aus dem finsteren Flur hervor und näherte sich von Wallenstein. Der Therapeut wich stolpernd zurück, griff zitternd über das Bett ins Leere und
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