Die Heilanstalt (German Edition)
Zeigefinger nicht auf die eigenen Lippen, sondern auf die des Therapeuten. Von Wallenstein zuckte bei der Berührung zusammen, als hätte er an eine elektrische Leitung gefasst.
»Ihre Zukunft in dieser Welt ist verwirkt, Herr von Wallenstein«, sprach die gefühlskalte Stimme des Herrn. »Ihre Missgeschicke sind zu gravierend, um weiterhin von uns toleriert zu werden. Dennoch möchten wir uns für Ihren Dienst bedanken und unserer Wertschätzung Ausdruck verleihen, indem wir Sie fortan in unsere Obhut nehmen.«
»Warten Sie, oh bitte, wenn Sie mich noch einen Augenblick anhören wollen, so …«
Der Mann presste seine Hand auf den Mund des Therapeuten, um ihm vom Sprechen abzuhalten. »Ihr Leib ist zu müde, um Ihren aufstrebenden Geist weiterhin zu tragen«, flüsterte er. »Lassen Sie die Bande der Körperlichkeit fahren, Herr von Wallenstein, und steigen Sie in die hohe Sphäre unseres gemeinschaftlichen Geistes auf.«
Von Wallenstein rang unter der Hand des Mannes nach Luft und suchte sich vergeblich zu befreien.
»Erlauben Sie Ihrer Seele die Trennung vom Leib und eröffnen Sie ihr den Pfad zur Ewigkeit.«
Der Herr verstummte, senkte den Blick und verfiel in eine Art Trance. Kurz darauf begann seine Gestalt sich zu verändern. Sein Gesicht floss auseinander wie eine schmelzende Maske aus Wachs; die hohlen Wangen füllten sich, die schmalen Lippen blähten sich auf, die Nase vergrößerte sich, die Ohren wurden länger und spitzer, der Kopf wuchs zu einem monströsen Schädel heran. Der schmächtige Körper dehnte sich, sprengte den Anzug und entwickelte gewaltige Muskelberge, deren Sehnen unter nacktem, grauem Fleisch zuckten. Ein furchterregender Dämon entstand aus dem hageren Herrn, ein fellloser Werwolf, wie Janick ihn als Kind gesehen hatte. Das Scheusal legte den Schädel in den buckligen Nacken und stieß ein ohrenbetäubendes Heulen aus, das die Wände beben ließ. Dann richtete es seine blutroten Augen auf den sich windenden Therapeuten, leckte sich die wulstigen Lippen und öffnete sein riesiges Maul. Janick erwartete, dass das Ungetüm sich erbrechen würde, so wie es damals einer seiner Artgenossen vor dem Siedlungstor getan hatte. Doch anstatt den Magen zu entleeren, war es seine Absicht, ihn zu füllen. Die Bestie holte tief Luft und entwickelte dabei eine Sogwirkung, die alles Umgebende an sich zog. Die Werkzeuge auf dem Tisch zitterten wie bei einem Erdbeben, setzten sich klappernd in Bewegung und stürzten polternd zu Boden. Die ineinander gestülpten Becher kippten um, lösten sich voneinander und rollten ebenfalls von der Tischplatte hinab. Die Teekanne benötigte nur unwesentlich länger, um wackelnd ihren Platz zu verlassen, über den Tischrand zu fallen und mit einem lauten Knall auf den Fliesen aufzuschlagen. Janick spürte, wie seine Haare zum Schlund des Ungeheuers gezogen wurden und einzelne sich schmerzhaft entwurzelten. Mehr noch verspürte er den Sog im Zentrum seiner Gedanken, als würde die Zugkraft weniger an seinem Körper als an seiner Seele zerren. Seine Gefühle und Erinnerungen schienen sich gegen die Schädeldecke zu pressen und nur deshalb im Inneren zu verbleiben, da Janicks Geist zum Entweichen noch zu fest an die Leiblichkeit gebunden war. Die Seelenwelt von Wallensteins war hingegen bereits weitgehend vom Körper gelöst, sodass sie in ihm keinen ausreichenden Halt mehr fand und in die Saugkraft der Bestie geriet. Janick sah einen gleißenden, bunten Lichtschein, der als langer Faden aus dem Mund des Therapeuten drang und wie ein waagerecht durch die Luft fließender Bach in den Rachen der Kreatur strömte. Sabbernd nahm es dieses Lichtband auf und schlang es gierig in seinen Unterleib. Der Körper des Therapeuten verblasste und fiel in sich zusammen wie eine verdorrende Frucht.
Janick schrie vor Entsetzen, als wäre er selbst Opfer dieser schrecklichen Prozedur, und rüttelte an den Lederschlaufen. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht gewusst, was diese Wesen den Menschen antaten und zu welchem Zweck es geschah. Nun sah er es mit eigenen Augen, sah den ekelerregenden Genuss in der Fratze der Bestie, während sie den Geist von Wallensteins hinunterschlang, sah das Monster ekstatisch speicheln, während sein Wanst sich aufblähte wie eine Made, die sich bis zum Platzen mit Speck vollfrisst. Die Bestie fraß . Sie sog die Seele aus dem Leib ihres Opfers wie ein Blutegel, der sich an der Hauptschlagader seines Wirts festgesaugt hat und nicht eher wieder
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