Die Heilanstalt (German Edition)
würgen, als würde ihm unverdaute Nahrung im Hals stecken, an der es zu ersticken droht; blubbernde Laute dringen aus seinem Schlund, bis der Mageninhalt endlich hochkommt und das Monstrum sich übergeben kann. Ein Schwall türkisfarbener Flüssigkeit schießt aus seinem Maul, der in den zum Schreien geöffneten Mund der Frau hinabströmt. Das Erbrochene schimmert so intensiv wie Polarlicht; hypnotisierende Muster bewegen sich in diesem Schein, der auf angenehme Weise die Sinne betäubt. Die Brüder verfallen der sonderbaren Narkosewirkung vom bloßen Ansehen, und auch die Wächter blicken mit starren Augen auf die Flüssigkeit, die sie in ihren magischen Bann zieht. Die Frau wendet sich anfangs vor Ekel ab, doch lässt den schimmernden Erguss schon bald bereitwillig in sich eindringen und wirkt gar enttäuscht, als die leuchtende Flut schließlich versiegt. Letzte Tropfen des türkisfarbenen Schimmers fallen von den wulstigen Lippen der Kreatur, die die Frau sehnsüchtig mit dem Mund auffängt. Sie empfindet augenscheinlich keine Angst mehr, sondern scheint von einem Wohlgefühl durchdrungen. Die Brüder verspüren in ihrem Inneren ein Ziehen, das sie zu dem wundersamen Leuchten treibt, und beneiden die alte Frau um ihr Schicksal. Einer der Wächter macht einen Schritt hinaus zu den letzten Resten der Flüssigkeit, doch er wird von seinem Kollegen festgehalten, der den Blick rechtzeitig abgewandt hat.
Die Frau lässt es widerstandslos geschehen, dass das Wesen ihre Beine mit einem Band zusammenschnürt und sie in die Finsternis fortzerrt. Einen kurzen Moment ist ihr Gesicht noch im schwachen Licht erkennbar, bevor die Dunkelheit es wie ein Leichentuch verhüllt. Ihre Augen glänzen so leblos wie Kugeln aus Glas, während ein sanftes Lächeln ihre Lippen umspielt. Nie zuvor haben die Brüder, die in Angst, Kälte und Hunger aufgewachsen sind, eine solche Seligkeit in der Miene eines Menschen gesehen. Über sie selbst bricht allmählich wieder die Wirklichkeit herein, nachdem der letzte türkisfarbene Tropfen im Boden versickert ist. Sie erwachen aus dem rätselhaften Rausch und wechseln einen erschrockenen Blick.
Auch der unvorsichtige Wächter kommt allmählich wieder zu Sinnen und beobachtet, so wie sein Kollege, die sechs Silhouetten im Zwielicht. Wie ein Rudel Wölfe umkreisen sie die benebelte Frau und legen immer wieder die Schädel in die Nacken, um den finsteren Himmel anzuheulen. Die Wächter betrachten die Wesen voller Demut und scheinen für das erbrachte Opfer eine Gegenleistung zu erwarten. Schließlich löst sich eines der Ungetüme aus dem Kreis seiner Artgenossen und nähert sich dem offenen Siedlungstor. Es schleppt seinen massigen Leib auf allen vieren voran und knurrt wie ein Löwe, dessen letzte Mahlzeit schon viel zu lang zurückliegt. Doch während es sich dem hellen Bereich vor der Siedlung nähert, verändert sich seine Gestalt; sie schmilzt wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht, die Kreatur verliert ihren buckligen Nacken und gewinnt den aufrechten Gang, die Extremitäten schrumpfen, und die scharfen Krallen verschwinden. Die Wächter empfangen am Tor letztlich einen adrett in dunklem Anzug gekleideten Herrn mittleren Alters. Er hat eine gepflegte Mittelscheitelfrisur und ein sanftes, bartloses Gesicht. Nur die roten, gefühlskalten Augen, die niemals blinzeln, erinnern noch an die ursprüngliche Gestalt.
»Vielen Dank für die Gabe, Herrschaften«, sagt der Mann zu den ehrfurchtsvoll schweigenden Wächtern. »Für das nächste Mal erbitte ich mir jedoch wieder ein jüngeres Exemplar. Der Mensch entwickelt im Alter einen solchen Groll gegen sich und die Welt, der seine Seele wie ein Gift durchtränkt; der Nachgeschmack ist schlicht abscheulich. Die tröstliche Hoffnung, der Glaube an Schicksal und Fügung, das Vertrauen auf höhere Mächte – dies sind die süßen Zutaten des Geistes, die stets vorzüglich munden und immer wohl bekommen. Sie verstehen?«
»Gewiss!«, erwidert der erste Wächter.
»Natürlich!«, bestätigt auch der Zweite.
Der Mann im Anzug lächelt genügsam. »Sie wissen, wir könnten die ganze Siedlung an uns reißen, wenn der Sinn uns danach stünde. Doch wir verlangen, ganz bescheiden, nur ein Opfer im Monat, und belohnen Sie mit einem Nahrungsvorrat, der Hunderte Ihrer Art am Leben erhält. Es ist das friedvolle Gebot des Gebens und Nehmens, das sich – wie Sie vielleicht wissen – mit den höchsten Moralwerten deckt, die Ihre Rasse hervorgebracht hat.
Weitere Kostenlose Bücher