Die Heilanstalt (German Edition)
An dieses ehrenvolle Prinzip werden wir uns stets halten, wenn auch Sie es tun.«
Die Wächter nicken stumm, worauf der Herr im Anzug zufrieden lächelt. Dann streckt er einen Arm aus und zeigt auf den aufgeschütteten Kieselhaufen im Inneren der Siedlung. Das Gestein verändert seine Form und Beschaffenheit, fließt auseinander, um auf andere Weise wieder zu verschmelzen, und verwandelt sich schließlich in einen gestapelten Haufen verschnürter Säcke.
»Ihre Lebensmittel für diesen Monat, meine Herren. Seien Sie sparsam und bedächtig im Verzehr; Sie wissen, wir kommen stets zur gleichen Stunde und niemals verfrüht.«
»Danke!«, sagt der erste Wächter und verneigt sich untertänig.
»Vielen Dank!«, sagt der zweite Wächter und senkt ebenfalls sein Haupt.
Den Brüdern stockt der Atem bei solchem Wundergeschehen.
»Das sind ja Zauberer!«, raunt Janick fassungslos.
Als hätte der Mann im Anzug ihn gehört, blickt er plötzlich in seine Richtung. Er scheint ihn mit seinen roten Augen direkt anzusehen und ihm ein freundliches Lächeln zu schenken. Janick erstarrt und hält mit aufgeblähten Wangen die Luft an. Doch schon im nächsten Moment wendet der Herr sich wieder den Wächtern zu.
»Geben und Nehmen. Denken Sie immer an diesen edlen Grundsatz und leben Sie nach ihm« Der Herr hebt eine Hand zum Abschied. »Leben Sie wohl und bleiben Sie gesund bis zu unserem nächsten Zusammentreffen!«
Dann kehrt er den Wächtern den Rücken zu und schreitet ohne Eile davon. Als er in die Dunkelheit gerät und zu einem Schattenbild wird, wächst seine Gestalt wieder heran; sein Rücken krümmt sich, und sein Oberkörper fällt auf alle viere herab, seine Muskelmasse mehrt sich, der Buckel schwillt an, und seine Gliedmaßen verlängern sich, um wieder in jene scharfen Krallen zu münden.
Geschwind nähert die zurückverwandelte Kreatur sich ihren Artgenossen und läuft mit ihnen und dem dargebrachten Menschenopfer knurrend davon. Ihr Geheul ist noch zu hören, nachdem die Schwärze sie längst verschlungen hat.
Die Wächter atmen tief durch und schreiten mit hängenden Schultern ins Metallhäuschen, wo einer der beiden eine Armatur bedient. Kurz darauf schließt sich scheppernd das Tor, um wieder wie ein Vorhang die Außenwelt zu verhüllen.
Janick schielt verträumt ins Nichts; eine märchenhafte Verklärung liegt auf seinem Gesicht. Er verspürt eine Mischung aus Furcht und Begeisterung über das Geschehene und begreift noch nicht, welche Schandtat er soeben beobachtet hat. Er sieht seinen Bruder an, um sein kindliches Erstaunen mit ihm zu teilen, doch entdeckt in dessen Miene nur Wut und Entrüstung. Thomas besitzt schon jetzt eine Reife, die Janick erst in vielen Jahren entwickeln wird. Er erkennt die Unmenschlichkeit des Verbannungsrituals und fasst in diesem Augenblick den Vorsatz, diesem Treiben ein Ende zu bereiten. Thomas beschließt, die Wesen aus der Finsternis zu erforschen, um ihren Schwachpunkt auszumachen. Er empfindet brodelnden Zorn … gegen die Bestien, die die Menschen seit Jahren in die Finsternis verschleppen … gegen die Torwächter, die so ungerührt jene Frau geopfert haben … gegen die Siedler, die vor dem verabscheuungswürdigen Ritual die Augen verschließen, anstatt sich gegen diese Tradition zu erheben.
Janick hört, wie Thomas mit den Zähnen knirscht, und ahnt beim Anblick seiner verkrampften Miene, in welche Richtung der Lebensweg seines Bruders künftig führen wird.
»Hat sich da hinten gerade etwas bewegt? Ich glaube, da ist jemand!«
Der erste Wächter starrt aus dem Fenster des Metallhäuschens.
»Ach was«, meint der zweite Wächter abwinkend. »Heute traut sich niemand hier herunter.«
»Doch, ganz sicher! Drüben bei den Fässern!«
Er entfernt sich von den blinkenden Armaturen und Monitoren, stampft aus der Hütte und nähert sich dem Versteck der Brüder.
»Wir müssen weg, schnell!«, flüstert Janick. Doch Thomas ist so tief in Gedanken versunken, dass er ihn nicht hört.
Die Schritte des Wächters klackern auf dem Beton – klick-klack-klick-klack-klick-klack –, sie kommen näher, werden hastiger – klick-klack-klick-klack-klick-klack –, werden lauter, aufdringlicher, unheilvoller …
Abteilung Zwei
Klick-klack-klick-klack-klick-klack …
Das Klackern gehetzter Schritte bahnte sich einen Weg in Janicks Unterbewusstsein und rüttelte seine betäubten Sinne aus ihrem todesähnlichen Schlaf. Seine Wahrnehmung kehrte wieder und mit ihr auch das
Weitere Kostenlose Bücher