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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Geraedts
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ebenfalls Tränen zurück.
    Thomas studierte noch einen Moment lang das Gesicht seines Bruders. »Hast ganz schön Mut bewiesen, Kleiner«, sagte er und zwinkerte ihm schmunzelnd zu. Dann kehrte er Janick den Rücken zu und lief zum Fahrstuhl. Als er bereits den Rufknopf gedrückt hatte, rief Janick ihm noch einmal nach.
    »Hey!«
    Sein großer Bruder drehte sich mit fragendem Blick zu ihm um. Janick sagte nichts und sah ihn nur mit einem Ausdruck tiefster Dankbarkeit an. Thomas antwortete mit einem Lächeln, das wie üblich nur im Ansatz vorhanden war. Sie spürten wieder jenes Band, das ihre Seelen miteinander verknüpfte, wie vor vielen Jahren, als sie sich gemeinsam zum Außentor geschlichen hatten. Sie hielten den Augenkontakt so lange aufrecht, bis die Tür des Aufzugs sich surrend öffnete. Dann hob Thomas zum Abschied eine Hand und fuhr hinauf.
    Als sein Bruder weg war, wischte Janick sich die Tränen aus den Augen. »Du wirst stolz auf mich sein, wenn ich dir zu Hause mein Mädchen vorstelle«, flüsterte er.

Die Befreiung
    Einen kurzen Moment war Janick versucht, seinem Bruder an die Oberfläche zu folgen, solange dies noch gefahrlos möglich war. Mit verträumtem Blick starrte er auf den einladenden Aufzugsschacht am Ende des Flurs, während der Fluchtinstinkt und seine Liebe zu Judith von ebenbürtiger Kraft waren. Doch indem er sich ihren bewusstlosen Körper vergegenwärtigte, der hinter dickes Glas gesperrt war und wie ein Tier auf die Schlachtung wartete, überwand er den verführerischen Gedanken an die Flucht und verwandelte seine Angst wieder in Wut.
    »Feigling!«, beschimpfte er sich selbst und wandte sich vom Fahrstuhl ab. Entschlossen lief er in jene große Halle zurück, in der die Kreaturen ihre Beute lagerten.
    Dort herrschte eine gespenstische Stille. Janicks Schritte blubberten im schleimigen Morast, und sein Atem brach dampfend aus Mund und Nase. Fassungslos ließ er den Blick an den Seitenwänden entlangwandern, an denen jene birnenförmigen Behälter in akribischer Ordnung über- und nebeneinander befestigt waren. Die menschlichen Körper wanden sich in der konservierenden Flüssigkeit wie in unruhigen Träumen; sie waren nicht mehr lebendig und noch nicht tot. Janick sah Menschen jedes Alters, vom Kleinkind bis zum Greis, die alle nackt und bis auf die Knochen abgemagert waren.
    Einmachgläser , dachte Janick wieder und spürte eine erneute Übelkeit über sich hereinbrechen. Bevor die Galle in ihm aufsteigen konnte, setzte er sich in Bewegung. Er starrte in jeden Glasbehälter der unteren Reihe und blickte in zahlreiche fremde Gesichter, bis er bestürzt stehen blieb; stöhnend presste er beide Hände ans Glas und betrachtete ihr erschlafftes Gesicht. Judiths Augen waren wie in tiefem Schlaf geschlossen, und aus ihrem Mund ragte, wie bei allen anderen Gefangenen, ein schwarzer Schlauch.
    »Judith … ich hole dich da raus!«, versprach Janick mit tränenerstickter Stimme. Er schlug wütend gegen das Glas, bis seine Hände schmerzten. Doch es bildeten sich nicht einmal Risse in der Oberfläche. Janick sah sich hektisch um und entdeckte in der Nähe unter altem Gerümpel eine kleine Eisenstange. Er hob sie aus dem Schlick, umklammerte sie mit beiden Händen und schlug mit ihr auf das Glas ein, bis erste Sprünge entstanden. Janick wechselte keuchend den Griff und stieß die Stange jetzt frontal gegen den Behälter. Die Risse verästelten sich; das Glas begann zu reißen.
    »Gib nach!«, rief Janick und zitterte vor Anstrengung.
    Die Stöße tönten wie Donnerschläge durch die Halle und vermengten sich auf schauerliche Weise mit Janicks Schreien.
    »GIB NACH! GIB NACH! GIB ENDLICH NACH!«
    Schweiß lief ihm am Gesicht hinab, sein Herz pochte wild in der Brust. Das Glas knirschte wie eine Eisfläche kurz vor dem Brechen.
    »GIB NAAAACH!«, brüllte Janick und versetzte dem Behälter einen letzten Stoß, der das Glas klirrend durchbohrte. Schnaufend zog er die Stange wieder heraus, woraufhin die dicke Flüssigkeit so träge wie Honig aus dem Loch quoll. Janick vergrößerte die Öffnung und verschaffte der Substanz mehr Platz zum Fortfließen; sie sackte als klebriger, übel riechender Schleim zu Boden und bildete dort eine rutschige Lache. Janick glitt mehrmals auf ihr weg, doch er konnte das Gleichgewicht stets halten und das Glas weiter mit der Eisenstange bearbeiten.
    Bald war die Flüssigkeit bis auf den Bodensatz ausgelaufen. Janick brach noch mehr Glas heraus, bis er in den

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