Die Heilerin - Roman
dabei nicht nur um die Obstbäume ging, die über die Mauerkrone lugten.
Jeatar öffnete das Tor und streckte einen Arm aus. »Nach dir.«
Er ließ mich los, und einen Herzschlag lang dachte ich daran, einfach wegzulaufen. Aber wenn man mir hier wirklich ein Angebot unterbreiten wollte und man mir außerdem helfen konnte, Tali zu finden, dann musste ich ihnen eine Chance geben. Ich sah mich zu Morell um, der aussah, als wäre er nur noch Minuten von einer Ohnmacht entfernt. Vielleicht konnte ich mir ein wenig von dem Schmerz zurückstibitzen, um ihn zu benutzen, falls ich überstürzt verschwinden musste. Ich rückte näher an ihn heran.
»Das würde ich nicht tun.« Jeatar musterte mich tadelnd und schob mich in einen mittelgroßen Raum, dessen Wände samt und sonders von Regalen eingenommen wurden. Beinahe wie in einem Laden.
Gewürze und ein bitterer, metallischer Geruch drangen in meine Nase. Unbearbeitetes Pynvium? Allerdings alt. Der Geruch blieb in meiner Nase, aber er legte sich nicht auf meinen Rachen, wie es das frische Erz stets getan hatte.
Gegenstände unterschiedlichster Größe lagerten auf den Regalen: Tafelsilber, Tassen, dünne Ruten, Bälle, Statuetten, Windspiele. Die meisten waren bunt bemalt, aber ein paar glänzten in dem unverwechselbaren Blau, das erst vor so kurzer Zeit drohend vor meiner Nase geschwungen worden war. Kostbare Kinkerlitzchen, angefüllt mit eines Menschen Qual, bereit für den Zauber, der den Auslöser darstellte und einen Blitz puren Schmerzes abfeuern würde.
Meine Bibberfüße meldeten sich zurück. »Ihr seid Schmerzhändler.« Neue außerdem, anderenfalls hätte ich den Laden kennen müssen.
»Wir arbeiten für einen Schmerzhändler, auch wenn ich nicht sicher bin, wie lange Morell das noch tun wird.«
Morell setzte eine noch finsterere Miene auf, sagte aber nichts.
»Kündige unseren Gast an, ehe du zum diensthabenden Löser läufst«, bat ihn Jeatar, obgleich sich das weniger wie eine Bitte denn wie ein Befehl anhörte. »Ich glaube nicht, dass es sicher ist, euch zwei allein zu lassen.«
Morell humpelte hinter die schiefergedeckte Ladentheke, die sich beinahe über die ganze Länge einer Wand zog, und zu einer schmucklosen Tür, die mich doch mit banger Ahnung erfüllte.
»Warum seid ihr mir gefolgt?«, fragte ich Jeatar.
»Um uns zu vergewissern, dass deine Fähigkeiten echt sind, was du im Tempel ja nachdrücklich unter Beweis gestellt hast. Mein Auftraggeber wird zufrieden sein. Er war bereits beeindruckt von dem, was die Jungen und der Bauer Heclar im Gildenhaus berichtet haben.«
Bei allen Heiligen! Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein? Jetzt alles abzustreiten wäre genauso töricht und würde mir vermutlich auch nicht weiterhelfen.
»Es tut mir leid, wenn wir dir Angst eingejagt haben, Nya«, fuhr er fort, »aber wir mussten sichergehen, bevor wir an dich herantraten.«
Er musste außer mit Heclar noch mit jemand anderem gesprochen haben, wenn er meinen echten Namen kannte. Hatte Heclar ihm von Danello erzählt ? Ganz bestimmt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Danello irgendjemandem von mir erzählen würde. Scharf sog ich die Luft ein. Bahari? Er würde schon eher reden, schon um sich dafür zu rächen, dass ich ihn gezwungen hatte, Schmerz auf sich zu nehmen, den er nicht gewollt hatte. Aber was wollte Jeatar? Warum hielt er meinen echten Namen geheim?
Die Tür ging auf, und ein Mann trat heraus. Er war so gut gekleidet, dass die Seidenmänner dagegen wie Flüchtlinge aussahen. Groß wie ein Berg in seinem juwelenbesetzten Seidenbrokat und mit dem schwarzen Haar, das sich ohne das kleinste Kräuseln wellte. Er roch nach Schmiede. Wie Papa. Ein Techniker, so sicher wie Zucker süß war. Allerdings fiel es mir schwer, mir vorzustellen, wie dieser aufgeblähte, geschniegelte Mann über den läuternden Flammen stand und das weiß glühende Pynvium behandelte, während er ihm die Form verlieh, in der es sich am besten verkaufen ließ.
»Ist das unser Mädchen?«, fragte er.
»Ja, Herr.« Jeatar trat zur Seite. Für einen Moment huschte ein Ausdruck des Missfallens über sein Gesicht. Ich schätze, sogar die reichen Leute mögen ihre Arbeitgeber nicht immer.
»Merlaina, bitte komm herein und nimm Platz. Du siehst erschöpft aus.« Der Techniker legte einen Arm, so gewaltig wie ein Baumstamm, um meine Schultern und geleitete mich durch die Tür. Reichtum troff von den perlenbestickten Gobelins an sämtlichen Wänden und sammelte sich
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