Die Heilerin - Roman
Schmerzes in ihn drückte. Er ließ mich los, hielt sich die Hüfte, hielt sich die Rippen, rieb sich den Kopf.
»Wo ist sie?«
Ich hörte ein leises Lachen aus dem Eingangsbereich. Ruckartig riss ich den Kopf herum, als auch schon Seidenmann Nummer eins hereinschlenderte. Heute trug er Rot. Kein Wunder, dass ich ihn nicht hatte finden können. »Immer mit der Ruhe, Merlaina«, sagte er und hielt eine Bankreihe Abstand.
Ich wich zurück und prallte gegen die Heilige Saea. Ihre ausgestreckte Hand passte wunderbar auf meine Schulter.
»Du bist in Sicherheit. Du brauchst nicht wegzulaufen.«
Als könnte ich irgendwohin, wenn mich doch eine Heilige festhielt. »Wo ist meine Schwester?«
»Ich weiß es nicht.«
»Lügner!«
Seidenmann zwei richtete sich stöhnend auf. Sein Gesicht war vor Schmerz ganz bleich und schweißnass. »Hast du gesehen, was diese 'Veg mit mir gemacht hat?«
»Schweig, Morell. Ich habe dir gesagt, dass sie gefährlich sein könnte.« Seidenmann eins lächelte, aber ich konnte nicht erkennen, ob das ein Zeichen des Humors oder der Geringschätzung war.
»Du bist ein Esel, Jeatar.«
Seidenmann eins lachte, aber zumindest wusste ich nun, dass jeder der beiden einen Namen hatte. In den Gutenachtgeschichten, die Mama uns immer vorgelesen hatte, verliehen Namen Macht über Dinge. Davon konnte ich ganz sicher ein bisschen brauchen.
»Wir haben kein Interesse an deiner Schwester«, sagte Jeatar. »Nur an dir.«
Mein hitziger Zorn kühlte sich ab. Wenn sie Tali nicht hatten, wer dann?
»Jetzt sei ruhig und komm mit uns, ehe die Patrouille eintrifft und die Soldaten herausfinden, wozu du fähig bist. Ich bin überzeugt, der Generalgouverneur und die Gilde wären überaus interessiert.«
Das mochte eine leere Drohung gewesen sein, aber Morell sah aus, als wäre er begierig, es mir heimzuzahlen. War bestimmt keine gute Idee, ihn auf die Probe zu stellen, auch wenn er es gerade ziemlich schwer hatte, wieder auf die Beine zu kommen.
Trotz meines Zitterns versetzte ich der Heiligen Saea mit dem Ellbogen einen Stoß in ihren kalten Marmorbauch. Das war dumm, aber irgendwie schien es mir, als wäre alles ihre Schuld.
Sechstes Kapitel
W ir verließen den Tempel und wandten uns nach rechts in Richtung der reicheren Viertel. Je weiter wir gingen, desto mehr dunkelhaarige Leute begegneten uns, und mehr als nur ein paar von ihnen warfen mir böse Blicke zu. Jeatars Hand lag noch immer an meinem Oberarm, hielt ihn mit festem Griff, aber nicht fest genug, um mir Schmerzen zu bereiten, während Morell neben uns herhumpelte, mich aber nicht anrührte. War das auch mit Tali passiert ? Hatten sie sie auf dem Heimweg von den Gärten geschnappt und ihr gedroht, mich bloßzustellen ? Ein Schrei wollte aus meiner Kehle brechen, aber Morell sah aus, als würde er jede Gelegenheit willkommen heißen, mich mit einem oder zwei Schlägen zum Schweigen zu bringen.
»Wohin bringt ihr mich?« Ich sah mich um, aber niemand wollte meinem Blick begegnen.
»Mein Auftraggeber ist an einem Treffen mit dir interessiert.«
»Gehört er zum Herzog oder zur Gilde?«
Er legte die Stirn in Falten und sah mich sonderbar an, antwortete aber nicht.
Mein Zittern wich einem Schaudern. »Hat er meine Schwester?«
Jeatar seufzte, und eine Sekunde lang glaubte ich Mitgefühl in seinen Augen zu sehen. »Wir haben mit deiner Schwester nichts zu schaffen. Wir haben dir lediglich ein Angebot zu unterbreiten, an dem du interessiert sein könntest.«
Wenn sie Tali nicht hatten, brauchte ich auch meine Angst nicht mehr runterzuschlucken und mitzuspielen. Außerdem sah das weniger nach einem Angebot aus als vielmehr nach einer Entführung. Ich blieb stehen, was auch ihn zum Stehen brachte. »Was für ein Angebot soll das sein?«
»Tut mir leid, aber ich habe strikte Anweisung, dich zuerst zu meinem Herrn zu bringen.«
»Und wenn ich nicht mitgehe?«
»Dann ziehen wir dir einen Sack über den Kopf und schleifen dich hin«, knurrte Morell direkt an meinem Ohr. Inzwischen schwitzte er heftig, und die Seide an seinem Kragen war feucht und dunkel gefleckt.
Ich trat ihn, riss meinen Arm aus Jeatars Griff los. Morell schrie und schlug mit der Faust nach meinem Kopf. Ich stolperte zurück, glitt auf der nassen Straße aus und landete auf dem Hinterteil. Ein paar Leute drehten sich zu uns um, einer lachte sogar.
»Hilfe!« Diejenigen, die hergesehen hatten, wandten sich eilig ab. Ich stemmte mich hoch, aber meine Beine rutschten in alle
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