Die Heilerin - Roman
die verborgene Schärfe wahr. Eine Sägezahnschärfe, keine Klinge, die einen sauberen Schnitt hinterlassen würde.
Lanelle verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Guten Morgen, Herr.«
»Irgendwelche Probleme heute?«
»Nein, Herr. Es war alles ruhig.« Sie trat näher und schob das Pynvium mit dem Fuß unter meine Pritsche. Vielleicht brütete Lanelle in ihrem Köpfchen, das nicht ganz so leer war, wie ich es mir gewünscht hatte, bereits einen eigenen Plan aus. Wie beispielsweise, das Pynvium zu stehlen und ein Vermögen damit zu machen.
»Ist irgendwas Ungewöhnliches vorgefallen?«
»Eigentlich nicht. Diese Patientin hatte einen Anfall und ist aus dem Bett gefallen, aber sie hat sich nichts dabei getan.«
»Gerade erst?« Schritte, dann fiel ein Schatten über mich. Ich blickte auf und blieb sogleich an den schweren, geflochtenen, goldenen Abzeichen an seinen Schultern hängen.
Der Erhabene stand über mir, nahe genug, ihn zu berühren.
Dreizehntes Kapitel
I ch durfte jetzt nicht versagen. Tali war noch nicht in Sicherheit. Danello und die Zwillinge lagen immer noch im Sterben. Und so viele Heiler litten Höllenqualen.
»Herr«, sagte Tali mit mehr Respekt in der Stimme, als ich es je von ihr erlebt hatte, »mit Eurer Erlaubnis würde ich gern in den Behandlungstrakt zurückkehren. Meine Visite beginnt bald.«
Lanelle sah aus, als würde sie jeden Moment aus der Haut fahren, schwieg aber. So wie ich; nicht das kleinste Wimmern eines Abschieds kam über meine Lippen. Wenn die Konfrontation mit dem Erhabenen Tali endlich dazu brachte, die Flucht zu ergreifen, dann war ich bereit, die Ratte den ganzen Tag lang anzustarren.
Er sah Tali an und nickte. »Melde dich bei dem Ältesten Tyleen.«
»Ja, Herr.«
»Du, geh mit ihr«, fügte er hinzu.
»Herr?« Kione hörte sich so schockiert an, wie ich mich fühlte. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er mit im Raum war. Vielleicht hatte er Lanelle davon abgehalten, mehr Wachen herbeizurufen.
»Ich möchte nicht, dass heute irgendjemand allein herumläuft. Sorgt dafür, dass jeder eine Eskorte bekommt.«
»Ja, Herr.«
Mein Hirn fühlte sich so schlammig an wie Sumpfwasser.
Ich atmete einmal tief ein, ließ einen Teil des Schmerzes wegsickern. Kione war nun mit Tali gegangen, und sie war auf dem Weg nach draußen. Würde er sie gehen lassen? Fraglich, da das bedeutete, dass er sich dem Erhabenen widersetzen müsste, aber vielleicht würde er auch jetzt »nichts tun«, während sie sich im Zuge der Visite davonschlich. Vielleicht...
Ich erschrak. Der Erhabene studierte mich, starrte mich aus himmelblauen Augen an, als wüsste er, welche Gedanken mir durch den Kopf stolperten. Er war jünger, als ich angenommen hatte, kaum vierzig. Er machte sich nicht die Mühe, einen Heilerzopf zu flechten, sondern trug das schwarze Haar glatt und kurz geschnitten. Ich wandte die Augen ab, versuchte, meinem unsteten Blick den Anschein eines Deliriums zu verleihen.
»Hat sie irgendwelche von den Symptomen gezeigt?«, fragte der Erhabene mit ruhiger Stimme. Lanelle hatte ebenfalls Symptome erwähnt. Suchten sie etwas?
»Nein, Herr. Nur die drei, von denen ich dem Ältesten Vinnot gestern berichtet habe. Aber ich kann kaum noch in die Nähe des Kovek-Mädchens gehen. Es tut schon aus mindestens drei Fuß Entfernung weh. Ich musste ihre Pritsche von denen der anderen abrücken.«
Trotz der Qualen spitzte ich die Ohren. Es tat weh, aus drei Fuß Entfernung ?
Der Erhabene nickte, und sein forschender Blick ruhte immer noch auf mir. »Ich schicke jemanden her, um sie fortzubringen. Zu eurer Sicherheit.« Die letzten Worte sprach er aus, als wären sie ihm gerade noch rechtzeitig in den Sinn gekommen.
»Bin ich hier in Gefahr, Herr?«, fragte Lanelle.
»Nein. Pass nur weiter gut auf, wie der Älteste Vinnot es dir aufgetragen hat. Ich lasse eine unserer Wachen hier vor der Tür. Wenn dir irgendetwas Verdächtiges auffällt, dann gibst du ihr sofort Bescheid.«
»Ja, Herr.«
Ich ließ meinen Blick zu dem Erhabenen zurückschweifen, und es fiel mir schwer, ihn anschließend wieder abzuwenden. Aus meinem Blickwinkel sah er groß aus, hatte aber keine breiten Schultern. Vermutlich hatte er nicht im Krieg gekämpft und nur die geheilt, die gekämpft hatten. Auf Seiten des Herzogs selbstverständlich.
»Herr?«, rief eine junge Stimme von der Tür. »Ältester Mancov fragt nach Euch. Er sagt, Sersin sei wieder wach.«
Seine Augen leuchteten auf, und er wandte sich ab,
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