Die Heilerin - Roman
dorthin.«
Aylin sah verunsichert aus. »Das ist eine nette Geste, und ich will dich nicht kränken, aber ich habe keine Ahnung, wer du bist. Ich werde dich nicht einfach allein in meinem Zimmer lassen.«
Soek wirkte nicht gekränkt. »Dann halte ich vor der Tür Wache. Oder auf der Treppe.«
Sie dachte einen Moment darüber nach und nickte schließlich. »Also gut. Ich schätze, das ist in Ordnung.«
Ich starrte sie an: Tali, die Schwester, die ich liebte, Aylin, die Freundin, die ich liebte wie eine Schwester, Danello, den ich vielleicht lieben konnte, sollten wir lange genug überleben, um wirklich Zeit miteinander verbringen zu können, um es herauszufinden. Sie alle waren bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um Fremde zu retten. Genau wie Mama und Papa im Krieg. Sollten wir das wirklich tun? Konnten wir es? Großmamas Worte schienen mich anstupsen zu wollen. Das Richtige zu tun ist selten leicht.
»Wir können uns den Weg hinein nicht freikämpfen. Wir sind keine kampferprobten Soldaten, also wird es nicht einmal mit Blitzen funktionieren«, sagte ich und musterte die Klumpen, die nur darauf warteten, geleert und wieder gefüllt zu werden, und langsam entwickelte sich in meinem Kopf ein Plan. »Wir müssen uns hineinschleichen, so wie ich es getan habe, um Tali zu holen. Und dann wieder raus.«
Danello runzelte die Stirn und kratzte sich am Nacken. »Wie schleichen wir uns mit sechzig verwundeten Lehrlingen raus?«
»Das tun wir nicht. Wir entladen dieses Pynvium und benutzen es dann dazu, sie zu heilen, und dann fliehen wir alle gemeinsam. Wir werden die Klumpen wieder komplett auffüllen können, also sollte es uns auch gelingen, uns damit den Weg bis zum Hof freizublitzen. Wenn wir erst den Gildeplatz erreicht haben, können wir jedem in Geveg beweisen, dass der Erhabene ein Lügner ist.« Und zugleich wer weiß wie viele Leben retten.
»Können wir die Wachen so lange in Schach halten?«, fragte Aylin.
Danello zuckte mit den Schultern. »Kommt darauf an, wie viele der Erhabene uns auf den Hals hetzt. Aber wenn wir es hinein schaffen, ohne die Wachen auf uns aufmerksam zu machen, dann bleibt uns vielleicht ein bisschen Zeit, ehe irgendjemand nach den Lehrlingen sieht. Bei dem Mob, der sich draußen versammelt hat, sind vielleicht gar keine Wachen im Gebäude.«
Ein großes Vielleicht. »Die Tür zu dem Turmzimmer ist verriegelbar, richtig?«
Tali nickte.
»Während ihr die Lehrlinge heilt, können wir die Pritschen dazu benutzen, die Tür zusätzlich zu verbarrikadieren«, sagte Danello.
Das war kein großartiger Plan, aber unsere einzige Hoffnung. Ich zog eine Hand voll Pynvium hervor. »Alles steht und fällt jetzt mit der Frage, ob ich diese Dinger bewusst entladen kann.« Wenn nicht, war unser Rettungsplan zum Scheitern verurteilt. Ich drehte mich zu Tali um, die mich mit einer Mischung aus Furcht und Begeisterung musterte. »Hast du immer noch die Klumpen, die ich dir gegeben habe, um Danellos Schmerz zu heilen?«
»Ja. Ich wusste nicht, was ich mit ihnen machen sollte.« Sie wühlte in ihren vielen Taschen und reichte sie mir.
»Macht mal Platz. Ich weiß nicht, wie stark der Blitz sein wird.«
»Ich bin dann draußen«, murmelte Kione. Soek und Aylin nickten und gingen mit ihm hinaus auf den Korridor.
»Ich bleibe«, sagte Tali.
»Ich auch.« Danello lehnte sich lächelnd an die Wand.
Ich atmete tief durch und bemühte mich, meinen brodelnden Geist frei zu machen. Das Pynvium fühlte sich kalt und rau an. Wie hatte ich mich gefühlt ? Hitzig und wütend ? Ich suchte nach dem Zorn, stieß ihn hervor und warf.
Rums.
Das Pynvium prallte von der Wand ab und rollte unter das Bett.
»Es hat nicht funktioniert, oder?«, fragte Tali.
»Nein. Vertrau mir, du wirst es merken, wenn es klappt.«
Zorn war nicht richtig. Ich war zornig gewesen, aber als ich es entladen hatte, hatte ich noch viel mehr Furcht empfunden. Ich atmete tief durch und versuchte es noch einmal.
Rums.
»Vielleicht, wenn du ...«
»Tali, ich arbeite daran.«
»Ich versuche nur zu helfen.«
»Vielleicht solltest du draußen warten.«
»Wie wäre es, wenn ...«
»Tali, würdest du bitte einfach ...« weggehen. Ich starrte die Pynviumklumpen in meinen Händen an, während Papas Worte wie ein Flüstern in meinen Ohren erklangen. Einen Entladungsblitz auszulösen fühlt sich an wie Pusteblumen im Wind. Ich war sechs gewesen, vielleicht sieben, als ich neben der Schmiede gesessen und zugeschaut hatte, wie Papa
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