Die Heilerin von Lübeck
die Heilung zu verfolgen. Erst als am Ende der Woche Madame Adaliz aufgelöst in Talekes Tür erschien, ahnte sie, dass etwas Schreckliches passiert war.
»Ihr müsst fort«, flüsterte sie. »Fort aus Paris, fort aus Frankreich! Heute noch.«
Taleke spürte, wie ihre Knie nachgaben, und stützte sich auf den Tisch. »Warum?«
»Man will Euch verhaften. Ihr werdet der Zauberei mit Blattern bezichtigt.«
»Wer klagt mich dessen denn an?«
»Ein Lumpenweib namens Gautzelin, das Euch beim Maréchal dieses Bezirks angezeigt hat, Ihr hättet die Blatternkrankheit nach Paris gebracht. Der Kerl wurde damit beim Kardinal vorstellig, und das ist ernst. Es ist der gleiche Kardinal, der Josse …«
Die Furcht schnürte Taleke die Kehle zu. Gautzelin also, das Weib, dessen Neugier sie nicht hatte befriedigen wollen und das jetzt Rache nahm. Aber letzten Endes war Gautzelin gleichgültig.
Die Gefahr ging vom Kardinal aus. Ein Kirchenfürst, dem nicht einmal der hoch angesehene Chirurg Josse entkommen war, würde sie aus dem Leben wischen, ohne auch nur darüber nachzudenken, ob die Anklage stimmte. Sie brauchte lange, um sich ihre Beklemmung aus der Kehle zu räuspern. »Ist ein Kardinal denn nicht erhaben über einen solchen Unfug?«
»Das sagt Ihr, und so denke auch ich. Vielleicht sogar der Kardinal. Aber darauf kommt es nicht an. Der Vorwurf der Zauberei mit Blattern wird schon vor einem Prozess in aller Munde sein, und das ist es, was dieser eitle und beifallsüchtige Kirchenfürst braucht. Solltet ihr die Anklage glaubhaft entkräften können, würde das Gericht einfach darauf zurückgreifen, dass Eure Tätigkeit als ungeprüfte Heilerin in Frankreich illegal ist. Das wäre schon ausreichend für eine langjährige Strafe. Wir haben ein gut geregeltes Medizinwesen.«
Taleke hatte sich immer darauf verlassen, dass sie für ihre Tätigkeit als Heilerin keine Gebühr erhoben hatte. Die Geheilten hatten gegeben, was sie entbehren konnten oder für angemessen erachteten. Aber Madame Adaliz wusste, wovon sie sprach.
Es gab nur die Flucht. Taleke fühlte, wie ihr alles Blut aus dem Kopf wich. »Ich muss Nicolaus warnen. Auch er arbeitet illegal«, sagte sie. »Er kommt am Abend nach Hause.«
»Nein«, sagte Adaliz bestimmt. »Das werdet Ihr nicht tun. Ihr müsst in dieser Stunde los. An der Ecke wartet eine Sänfte. Sie wird Euch ungesehen zum Marstall auf der Straße nach Saint-Denis bringen, wo Eure neue braune Stute bereitsteht. Sie ist fromm und wirkt träge, was sie ganz und gar nicht ist. Ich habe sie unter mehreren Pferden ausgesucht und scharf zum Montmartre hoch- und zurückgeritten.«
Ein Bündel von hastig gestellten Fragen schlug über Taleke zusammen. »Warum helft Ihr mir? Kann ich Euch die Ausgaben für die Stute zurückerstatten? Wie mache ich das, wenn ich das Geld beisammen habe? Und darf ich Nicolaus schreiben?«
»Nein, schreiben dürft Ihr nicht. Er soll nicht wissen, dass und wohin Ihr geflohen seid. Die Stute ist Euer. Schließt Euch Pilgern an, die von den spanischen Wallfahrtsorten heimkehren. Ihr werdet zu dieser Jahreszeit keine Schwierigkeit haben, angenehme und verlässliche Jakobspilger aus Dänemark, Schweden, Norwegen und den baltischen Küstenstrichen zu finden, die bis Lübeck alle den gleichen Heimweg nehmen. Aber ich schlage dennoch die Gruppe aus Begüterten vor, die sich heute kurz nach Mittag an der Kirche Saint-Jacques sammelt. Sie ist ausnahmslos beritten, wird von Bewaffneten begleitet und wird ein schnelles Tempo anschlagen.«
Madame Adaliz überhäufte Taleke mit weiteren Erklärungen, aus denen sie vor allem entnahm, dass Eile geboten war. Und dass Adaliz schon weit gereist war und genau wusste, wovon sie sprach. »Ihr kennt sogar die Straßen in Norwegen?«, fragte sie beeindruckt.
»Ich bin den Nidaros-Pilgerweg gegangen. Er führt von Oslo zur wilden, felsigen Küste im Westen, an der die Hauptstadt der Norweger liegt. Und nun beeilt Euch.«
»Gott segne Euch«, hauchte Taleke. Erstmals in ihrem Leben küsste sie aus freien Stücken einen Rocksaum; bis dahin hatte sie das nur getan, wenn sie am Ohr zum schwarzen Gewand eines Priesters hinuntergezogen worden war.
»Noch eines, Taleke. Isabelle hat die Hochzeitsnacht überstanden, ohne dass Beanstandungen bekannt geworden wären. Es sollte Euch als gutes Omen dienen. Lebt wohl.«
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Teil IV
Lübeck, anno 1308
Kapitel 19
Der Herr sei mit euch auf euren Wegen über die See. Er behüte euch, und er segne
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