Die Heilerin von Lübeck
ihres Einzuges saß sie überaus zufrieden neben der Feuerstelle, auf der sie gerade einen Topf mit Würzwein erhitzte. Draußen fiel die Dunkelheit, und Taleke fand es an der Zeit, den Neubeginn gebührend zu feiern.
Sie war nun zweiundzwanzig Jahre alt, konnte lesen, schreiben und rechnen und hatte genügend Kenntnisse angesammelt, um sich als Heilerin zu betätigen. Im Grunde musste sie Nicolaus dankbar sein.
Wenn sie bedachte, wie unbedarft sie in Lübeck von der »Brücke« gesprungen war, ohne mehr zu wissen, als wie man eine Gans aufzieht, ausnimmt und brät, trieb es ihr die Schamröte ins Gesicht. Vor allem, wenn sie an Volrad Wittenborch dachte. Welch schlechten Eindruck mochte sie bei ihm hinterlassen haben! Als Aufschneiderin, die einen weitgereisten Seemann zu belehren versuchte! Ein wenig wehmütig versuchte sie sich vorzustellen, welches Seegebiet seine Kogge wohl an diesem stürmischen Tag durchpflügen mochte.
Wittenborch hatte Taleke gut gefallen. An die anderen jungen Männer aus Nicolaus’ Freundeskreis konnte sie sich nur vage erinnern. Ihnen musste sie nach Möglichkeit aus dem Wege gehen, denn sie würden sich womöglich erkundigen, was Nicolaus machte. Nun, er studiere noch, würde sie antworten, in der Hoffnung, dass sie nicht weiter nachbohrten.
Warum eigentlich hatte Nicolaus nicht erfahren dürfen, dass sie fliehen musste? Nach einiger Zeit fiel Taleke die einzig mögliche Erklärung ein: Unter der Folter der Maréchaux hätte er ganz sicher gestanden, wo sie abgeblieben war. Zweifellos hätten Reiter auf schnellen Pferden sie bald in der Pilgergruppe aufgespürt und nach Paris zurückgebracht. Ihm nichts zu sagen, war eine wohlbedachte Vorsichtsmaßnahme von Adaliz gewesen. Beim Gedanken an ihre Retterin wurde es Taleke ganz warm ums Herz.
Aber jetzt befand sie sich in Sicherheit und konnte Nicolaus schreiben, damit er sie nicht womöglich in der Seine suchte oder gar in aller Öffentlichkeit Nachforschungen anstellte. Wobei sie auf Letzteres tippte, denn damit würde er gleichzeitig etwa aufkommenden Argwohn wegen seiner verbotenen Leidenschaft zerstreuen.
Es gab noch weitere bohrende Fragen: Warum hatte ihr Adaliz so selbstlos geholfen? Und warum hatte Gautzelin sie bei der Maréchaussée verleumdet?
Taleke wurde in ihren Gedanken unterbrochen durch ein kräftiges Klopfen an der Tür, zusammen mit der drängend gestellten Frage, ob hier die neue Heilerin wohne.
Vor Taleke stand ein junges, barfüßiges Mädchen, das sich ein verwaschenes Kopftuch übergeworfen und unachtsam verknotet hatte. Sie stützte sich am Türholm ab. »Kannst du zu Hilfe kommen?«, schnaufte sie atemlos. »Da … eine Frau stirbt.«
Der Hinweis auf einen Medicus erübrigte sich. Die Bittstellerin war bettelarm. Taleke machte schnell ihr Bündel mit Kräutern gegen Husten, Bangigkeit der Gedärme und Abweichen fertig, dann rannte sie schon hinter dem Mädchen her, ohne erfahren zu haben, um was es ging, nur dass es nicht weit war.
Die Kranke hauste in einer zerfallenden Holzhütte. Sie lag im Unterhemd inmitten einer Blutlache, die sich unter Talekes Augen ganz langsam im Leinenstoff und auf dem gestampften Boden ausbreitete, während das Blut an anderen Stellen bereits stockte. Auch ihre Beinlinge hatten schon Blut aufgesaugt und eine stumpfe Farbe angenommen, nur die Füßlinge waren von einem schönen leuchtenden Blau. Taleke schlug das blutige Tuch zurück, das den Körper der Frau bedeckte.
Auf den ersten Blick war erkennbar, dass ihr kein Kraut mehr helfen konnte. Das Blut sickerte nur noch aus dem Unterkörper, während die Haut jede Farbe verloren hatte.
»Sie liegt im Sterben. Hol den Priester«, bat Taleke.
Die Junge, die Taleke auf höchstens sechzehn Jahre schätzte, rührte sich nicht, sondern umklammerte das beinerne Kreuz, das sie an einer Lederschnur auf der offenherzig entblößten Brust trug.
»Fort mit dir, beeil dich«, versuchte Taleke sie zu scheuchen.
»Er kommt nicht zu einer Sünderin. Und das hier ist eine Todsünde.«
Taleke knurrte leise, sah aber ein, dass das Mädchen recht hatte. Die Frau hatte mit einem angespitzten Holz versucht, sich einer unerwünschten Leibesfrucht zu entledigen. »Du könntest ihm sagen, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hat.«
»Eine …?«
»Fehlgeburt. Misskram.«
»Meisterin, wir Bewohnerinnen dieser schäbigen Hütten sind Dirnen. Pater Pepersalz glaubt kein Wort von Misskram, verdammt soll er sein, er wird nicht kommen. Ich weiß
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