Die Heilerin von Lübeck
das.«
»Wie heißt sie?«
»Hedwig.«
»Kannst du mir dein Kreuz leihen? Dann werden wir beide für Hedwig beten, so gut wir es verstehen.«
Die junge Frau schien überrascht von Talekes Vorschlag. »Wenn das so ist … Ich habe ein größeres Kreuz, das wird noch besser helfen.« Sie grub unter den zerlumpten Decken auf einem Wandbett an der kurzen Seite des Hauses ein handtellergroßes Holzkreuz heraus, das sie küsste und Taleke übergab. »Hedwig war immer gut zu mir. Aber glaubst du, dass sie mein Kreuz wirklich braucht, wenn sie vor die Augen unseres Herrn tritt?«
Taleke schob Hedwig das Kreuz zwischen die klammen gefalteten Hände. Sie hörte die Not in der Stimme der Jungen und schüttelte sachte den Kopf.
Hedwig schied unter ihrer beider Gebet mit einem kleinen Seufzer aus dem Leben. Das Kreuz umklammerte sie so fest, als hätte sie unendliches Vertrauen, dass sie gleich in die Ruhe des Herrn eingehen würde.
Hedwig hatte sich die tödliche Verletzung nicht selbst zugefügt. Zu ihrem Schrecken erfuhr Taleke wenig später von der jungen Hure, dass es die Engelmacherin Tiburga gewesen war, die mit roher Gewalt in Hedwigs Körper herumgestochert hatte, um die Leibesfrucht zu lösen. Als sie den kleinen Klumpen inmitten eines Schwalls von Blut entdeckt hatte, hatte sie ihn an sich gerissen, ihre Röcke gerafft und war ohne ein Wort davongestürzt.
»Weißt du, wessen Kind es ist?«
Die junge Hure, Godele mit Namen, verzog das Gesicht und nickte.
»Aber sagen willst du es nicht?«
»Nein, das will ich nicht! Ich habe am meisten darunter gelitten, dass der junge Herr, der vom Alter her ein Schulbengel war, wie sie die Lateinschule besuchen, Hedwig volle vier Wochen mit Beschlag belegt hat. Aber sie hat ihm dafür reichlich viel Geld abgenommen und auch mich ausbezahlt, weil ich so viele Tage anderswo unterkriechen musste …«
Offensichtlich ein Liebhaber mit Geld. »Wirst du es dem Stadtrat melden?«
Unter abfälligem Prusten schüttelte Godele energisch den Kopf. »Wir melden nie etwas. Ich hole mir einen der Knechte aus der Nachbarschaft, und dann verscharren wir Hedwig, sobald es dunkel ist. Sie ist nicht die Erste, die hinter der Hütte von Würmern gefressen wird. Sobald ein Wandermönch vorbeikommt, werde ich ihn bitten, für Hedwig ein Gebet zu sprechen. Ausgerechnet mir muss so etwas passieren!«
Verscharren! Taleke schlug das Kreuz und ging. Nicht einmal ihre widerspenstige Mutter hätte dies gutgeheißen.
Die schmalen Gassen waren selbst nach Mitternacht noch nicht zur Ruhe gekommen. Irgendwo in der besseren Gegend von Lübeck sang ein Nachtwächter sein Lied, und gedämpfter Lärm kam aus einer nahen Taverne. Gelbe Augen leuchteten zwischen Abfall und Schutt, aber diese Rattenaugen fürchtete Taleke weniger als die forschenden Blicke zweier Gestalten, die sich lautlos vorwärtsbewegt hatten und erstarrten, als sie ihre Schritte hörten. Vermutlich waren sie eher auf einen Bruch aus als auf eine Frau, aber Taleke war doch dankbar, als sie ihnen ungeschoren entronnen war.
In ihrem Häuschen angekommen, war sie noch so durcheinander, dass sie sich erst besinnen musste, wo sie die ausgepustete Tranlampe abgestellt hatte. Dann fachte sie erneut das Feuer an und wartete darauf, dass der Würzwein heiß wurde. Sie hatte sich ihn verdient und versuchte, auch ein wenig Trost im Wein zu finden.
Hedwigs schreckliches Ende war ein äußerst unglücklicher Beginn ihrer Tätigkeit als Heilerin in Lübeck.
Manchmal hat man aber auch Glück, dachte Taleke, als sie zwei Tage später beschwingt von einer erfolgreichen Geburtshilfe nach Hause eilte. Ein Handwerkermeister der Maurergilde hatte sie rufen lassen, weil zur gleichen Zeit, als seine Frau niederkam, die bestbeleumdete städtische Hebamme am anderen Ende von Lübeck bereits mit einer Geburt befasst war.
Taleke wurde geholt, obwohl es andere Wehmütter in den einzelnen Vierteln gab, die sich allerdings allesamt keines sonderlich guten Rufes erfreuten. Aber sie selbst besaß weder überhaupt einen Ruf noch verstand sie sich als ausgebildete Hebamme. Es war ihr ein Rätsel, warum der Meister Johann Hilge seinen Lehrling zu ihr geschickt hatte.
Hilges Ehefrau war kräftig, gut genährt und durch drei vorangegangene Geburten bereits geübt im Atemholen und Pressen. Der Kleine war schnell da.
Und der Meister war selig, als er seinen wohlgeratenen Sohn in die Hände gelegt bekam. Die drei Töchter schauten neugierig zu, und die Mutter
Weitere Kostenlose Bücher