Die Heilerin von Lübeck
geflohen war. Man hatte Taleke zusammen mit ihr, Adaliz, vorher im trauten Gespräch auf der Straße beobachtet, und daraus ergab sich schlüssig, dass Adaliz den Kontakt zwischen Isabelle mit Josse eingefädelt hatte und Taleke involviert war.
Auch Adaliz fürchtete jetzt um ihr Leben. Das Einzige, was sie nicht herausbekommen hatte, war, wer de Craon den Hinweis gegeben hatte. Von der Anklage gegen Taleke wegen der Blattern war im Brief seltsamerweise gar nicht mehr die Rede.
Adaliz hatte Taleke diese Nachricht zukommen lassen, um sie zu warnen. Die durch Isabelle wahrscheinlich düpierte Familie de Brienne würde sich möglicherweise nicht scheuen, Taleke nach Frankreich zu entführen, um aller Beteiligten habhaft zu werden. Die Amme saß bereits in einem geheimgehaltenen Turm der Stadtbefestigung ein. Nach den Sänftenträgern wurde noch gesucht.
Taleke ließ den Brief sinken und starrte benommen ins Feuer. Ihr grauste bei dem Gedanken, wozu Josses und ihr Mitleid mit einem jungen Mädchen geführt hatte. Sich selbst gab sie die meiste Schuld.
Von wem der Conde seine Kenntnisse hatte, war Adaliz unbekannt, aber nicht Taleke: natürlich von Nicolaus. Was mochte er für seine Informationen erhalten haben? Der Kaufmann, der er im Grunde seines Herzens war, würde niemals etwas ohne Gegenleistung tun.
Am nächsten Nachmittag, es war schon spät, sah Taleke auf dem Platz vor Sankt Petri einen jungen Mann mit auffallend brauner Haut, der ihr bekannt vorkam. Und dann wusste sie auch wieder, wo sie ihn erstmals gesehen hatte: in der Gesellschaft von Nicolaus, als der das Abschiedsgelage mit seinen Freunden gefeiert hatte. Neben ihm schlenderte ein schlaksiger Kerl, auch er durch Pelzkragen und Barett als Angehöriger der Kaufmannsgesellschaft ausgewiesen. Vermutlich gehörte er wie der Dunkelhäutige zu Nicolaus’ Freundeskreis.
Taleke lief mit gesenktem Kopf und tief ins Gesicht gezogenem Kopftuch hügelabwärts Richtung Getreidespeicher und Heringsbuden, wo die beiden zu dieser Tageszeit bestimmt nichts zu suchen hatten. Um keinen Preis wollte sie von Männern erkannt werden, in deren Gesellschaft Nicolaus sie als Hure eingeführt hatte. Dabei hätte sie sich am liebsten bei ihnen erkundigt, ob sie handfeste Nachricht von Nicolaus hatten. Ihr hatte er nur Allgemeinplätze geschrieben.
Vielleicht wussten seine Freunde, ob er bald zurückzukehren gedachte. In dem Fall musste sie sich überlegen, ob sie Lübeck verlassen sollte. Es blieb jedoch zu hoffen, dass sich seine Lehrzeit durch den notwendig werdenden Wechsel zu einem anderen Lehrherrn verlängern würde. Bis dahin wäre hoffentlich ihre Position in der Stadt so gefestigt, dass Nicolaus gegen sie nicht intrigieren konnte.
Am nächsten Morgen ließ Hermen nach Taleke rufen. Nicht der Lehrherr Gerlich Blomenrot, sondern der Lehrjunge selber. Beunruhigt eilte sie zur Brauerei.
Auf dem Hof traf sie als Erstes auf den frechen Gesellen, der sie sofort erkannte. »Bessere Gesellschaft! Söhne von Rittern! Wehleidiges Pack, sage ich dir! Dem Jüngelchen gebührt eine Abreibung, die er sich merkt, dann kommt er wieder auf die Beine!«
Taleke nickte ihm knapp zu und fand Hermen auf seinem Lager im kalten Anbau, mit hochrotem Kopf und verschwitzt.
»Zu Euch habe ich Vertrauen, Meisterin Taleke«, keuchte er. »Alles tut mir weh. Der Hals, der Rücken …«
Taleke musterte ihn bekümmert. Am Beginn und am Ende des Winters waren diese Krankheitszeichen besonders häufig. Schlimmer Husten konnte sich daraus entwickeln, und der Tod war keine seltene Folge. »Kann dich jemand pflegen, Hermen? Du brauchst einen heißen Stein an die Füße, Waden- und Halswickel und musst regelmäßig einen Sud aus Salbei mit Honig trinken.«
»Eine der Mägde vielleicht«, krächzte er.
»Dann gehe ich jetzt, um mit deiner Herrin abzusprechen, was zu tun ist.«
Hermen nickte mit fiebrigen Augen, und Taleke suchte im Vorderhaus nach der Braumeisterin. Wegen der hochnäsigen Magd, die sie einstmals zu Hermen geholt hatte, war sie auf das Schlimmste gefasst, denn die Dienerschaft verhielt sich meistens so, wie die Herrschaft es vorlebte. Es sei denn, die Halsschmerzen der Magd waren schuld gewesen.
Frau Blomenrot erwies sich als angenehme Überraschung. Sie war eine rundliche Person mit warmherzig leuchtenden Augen und ließ Taleke mit besorgter Miene ausreden.
»Ich wusste gar nicht, dass Hermen krank ist. Aber selbstverständlich soll er eine angemessene Pflege erhalten,
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