Die Heilerin von Lübeck
zu Taleke herein und verschwand wieder. Sie hörte seine Stimme auf der Gasse. Er unterhielt sich mit jemandem. Neugierig spähte sie durch die Fensteröffnung, ohne sich selbst sehen zu lassen. Verwundert erkannte sie den Schiffer Wittenborch. Nicolaus bat ihn, einen Augenblick zu warten, er sei gleich zurück.
Taleke huschte zu ihrem Hocker zurück und setzte sich.
Nicolaus trat gut gelaunt ein und griff sofort nach dem Kragen auf Talekes Schoß. »Schön«, lobte er. »Dich kann man brauchen.«
»Für ausgefallene Ideen immer, Nicolaus.« Sie lächelte kokett.
Er grinste zurück. »Schlag den Kragen in irgendetwas ein, damit er nicht auffällt, während ich mit meinem Freund in einer Kneipe Abschied von Lübeck feiere. Und du geh heute Abend nicht zu Bett. Wir brechen noch in der Nacht auf.«
»Wohin?«
»Nach Paris natürlich.«
»Aber davon, dass ich mitgehe, war doch nie die Rede!«, rief Taleke erstaunt. Auf den Gedanken, dass er sie mitnehmen könnte, wäre sie nie gekommen.
»Jetzt reden wir davon. Ich habe Geld genug für uns beide. Du bist so abenteuerlustig wie ich, Einfälle hast du auch, zusammen werden wir viel Spaß haben. Unsere Reittiere warten am Mühlentor, dorthin ist es nicht weit, und die Wächter sind bezahlt, um uns ohne Fragen hinauszulassen.«
Taleke blieb vor lauter Aufregung die Spucke weg. Das war das Leben, das sie sich gewünscht hätte, wenn sie es sich hätte vorstellen können. Nicolaus war reich und konnte sie gut leiden, und seine Unberechenbarkeit war vielleicht ihr Glück. Eine verwegene Vorstellung huschte ihr durch den Kopf: In einigen Jahren kämen sie zurück, sie möglicherweise als ehrbare Ehefrau mit einem Kind an der Hand, dem Enkel eines Lübecker Ratsherrn. In einem fremden Land war alles möglich.
Hinzu kam, dass sich der Stadtrat mit einem Mann, der die Jurisprudenz studiert hatte, nie anlegen würde. Eine Anklage wegen Verhöhnung am Kaak einige Jahre zuvor wäre bestimmt ausgeschlossen.
Nicolaus missverstand ihr Schweigen. »Du bist an dem Streich beteiligt, vergiss das nicht«, sagte er leise.
Wie meinte er das? Taleke richtete ihre weit geöffneten Augen fragend auf ihn.
»Die Handschrift einer Frau ist leicht erkennbar. Und die Freunde wissen, dass wir zusammen waren.«
Das Zusammennähen der Felle! Endlich begriff sie. Um sicherzugehen, dass sie mitkam, meinte er sogar, drohen zu müssen. Kindskopf! Sie war doch liebend gern bereit, den Spaß mitzumachen. Sie nickte mit funkelnden Augen.
Die Wartezeit kam Taleke unendlich lang vor. Auf der Gasse waren die abendlichen Geräusche längst verstummt, jedermann war zu Hause. In der Tür stehend, sah sie einen späten Schwarm Krähen fliegen, die sich in nahen Bäumen zum Schlafen niederließen. Der Rauch von Kochfeuern legte sich über Haus und Garten.
Ihre Ungeduld wuchs. Schließlich entschloss sie sich, aus dem Giebelfenster Ausschau nach Nicolaus zu halten. Es war keineswegs stockdunkle Nacht, es war Vollmond und sternenklar, sie würde ihn von weitem erkennen können.
Die steile Stiege nach oben erklomm sie ohne Licht. Mittlerweile waren ihr die Stufen vertraut. Oben war es dunkler als vermutet. Die offene Luke zeichnete sich nur als heller Schimmer vor dem Nachthimmel ab.
Auf nichts Böses gefasst, stieß sie mitten im Raum gegen einen Gegenstand, der vorwärtsschwang und dann zurückpendelte. Taleke schrie vor Schreck auf und nahm Fersengeld, immer mehrere Stufen auf einmal bis hinunter in die Küche, wo ein Talglicht brannte.
Da sich auch nach einer Weile und auf ihren Ruf hin oben nichts rührte, konnte es sich nicht um einen Einbrecher handeln. Taleke zündete mit zitternden Fingern ein weiteres Licht an, packte mit der Rechten ihre Gartenhacke und schlich nach oben.
In der Brise, die zur Luke hereinfächelte, drehte sich sachte Heinrich, die Füße knapp über dem Dielenboden. Das Tau, mit dem er sich erhängt hatte, war über den Balken geworfen, und den Hocker, auf dem er gestanden hatte, hatte er umgestoßen.
Mit weichen Knien lehnte sich Taleke gegen die Wand. Das hatte Nicolaus bestimmt nicht gewollt, als er seinen alten Knecht entließ. Ihr tat es leid um den Mann.
Vorsichtig fasste sie nach seiner Hand. Sie war eiskalt und steif. Heinrich musste sich schon am vergangenen Tag erhängt haben, ohne dass es jemand mitbekommen hatte.
Nicolaus hatte es brandeilig, als er endlich eintraf. »Komm, dein Umhang, und dann fort zum Tor!«, flüsterte er.
»Ich muss dir etwas
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