Die Heilerin von Lübeck
zeigen«, sagte Taleke bedrückt. »Heinrich hat sich oben erhängt.«
»Wir brauchen ihn sowieso nicht mehr, ich habe ihn ja entlassen. Wo ist dein Umhang? Du solltest doch fertig sein, wenn ich komme.«
»Nicolaus!«, rief Taleke entrüstet. »Dein Knecht Heinrich hat sich erhängt!«
»Ich habe es gehört«, antwortete er mürrisch, fand den Umhang und wollte das Talglicht löschen.
Danach endlich war Talekes Bericht in seinem Hirn angelangt. »Heinrich, sagst du?«
»Ja, er hängt oben. Ich hatte kein geeignetes Messer, um den Strick durchzuschneiden.« Taleke sah sich enttäuscht, als sie versuchte, Mitleid in Nicolaus’ Gesicht zu finden.
Im Gegenteil, er lächelte und entspannte sich, legte sogar den Umhang wieder auf den Hocker zurück. »Bestens! Dann hat also Heinrich aus Rache gegen meine Familie die Felle gestohlen, sie dem Kaak umgehängt und anschließend sich selbst gerichtet. Andernfalls hätte es mein Vater als Vorsitzender des Hochgerichts getan.«
Taleke verschlug es die Sprache. Sie konnte nur den Kopf schütteln.
Nicolaus runzelte fragend die Stirn und klopfte ihr beschwichtigend auf die Schulter. »Sieh es so: Niemandem geschieht durch diese vernünftige und glaubhafte Erklärung ein Schaden, weil Heinrich ja tot ist. Er hat so viel Gutes als Knecht erst meines Großvaters, dann meines Vaters erfahren, dass er uns diesen kleinen Dienst als Toter ruhig erweisen kann. Außerdem kann sein Weib bei meiner Mutter in Dienst bleiben, dafür wird sie dankbar sein. Und wir beide geraten gar nicht erst in Verdacht und vermeiden unangenehme Nachforschungen.«
»Dass wir mitten in der Nacht fliehen, ist sicherlich Beweis genug«, hielt Taleke ihm entgegen.
»Oh nein, das siehst du falsch, Taleke. Bei Ratsherren kommt es öfter vor, dass sie mitten in der Nacht zu einer unaufschiebbaren Aufgabe aufbrechen müssen. Der Tarif, der den Torwächtern zu zahlen ist, ist bekannt; unsere Reittiere habe ich bei Tage zum Mühlentor bringen lassen, weil es unnötig weit und unbequem gewesen wäre, sie nächtens aus dem Marstall am Burgtor zu holen, und wir wandern in aller Ruhe hin, um aufzubrechen. Du siehst, es ist alles in Ordnung.«
»Eben hattest du es doch noch so eilig! Hat es einen Zwischenfall gegeben?«
»Nein, nein, alles in Ordnung«, widersprach Nicolaus fröhlich. »Und jetzt ist es überhaupt nicht mehr eilig, weil Heinrich uns so freundlich entgegenkommt. Ich habe mich am Nachmittag in aller Form von meinen Eltern verabschiedet, und sie nehmen gewiss an, dass ich den Rest des Abends meinen Freunden gewidmet habe. Und nun ist es eben etwas später geworden. Oder sie denken, dass ich wie in den letzten Nächten hier schlafe. Komm jetzt.«
Die Erklärungen flossen Nicolaus leicht von den Lippen und hörten sich glaubhaft an. Jedoch blieb das Unbehagen wegen Heinrich. Taleke nahm sich vor, später über alles nachzudenken. Jetzt war keine Zeit dazu.
In aller Hast packte sie ihr Bündel, griff nach dem Umhang und war bereit für das Abenteuer.
Das Mühlentor war nicht weit weg, ein viereckiger, stämmiger, einstöckiger Bau. Im Stall, der an die Stadtmauer angebaut war, schliefen stehend ein Pferd und ein Maulesel. Das Pferd war höchst absonderlich gezeichnet, seine Hinterhand war weiß, ebenso wie die Mähne, der Rest schwarz. Taleke kannte nur die schweren braunen Hengste, die für den Kampf und die Turniere gezüchtet wurden, an denen ihr ehemaliger Gutsherr beteiligt war. Während sie noch darüber nachsann, dass ihr elendes Leben auf dem Gutshof ein für allemal beendet war, schnallte Nicolaus den Tieren die Packsäcke auf und half ihr auf den Maulesel.
Nicolaus reichte dem älteren der Torwächter die vereinbarte Summe in einem Säckchen hinunter und getrennt davon eine Pfennigmünze. »Ach, übrigens«, sagte er, »vielleicht könntest du meinem Vater die Nachricht zukommen lassen, dass sich sein diebischer Knecht Heinrich in dem neu gebauten Haus an der Krähenteichmauer erhängt hat. Er wird dir für die Nachricht dankbar sein, schließlich muss er Heinrich aus dem Haus schaffen, bevor der Mieter einzieht. Dies ist dein Botenlohn.«
[home]
Teil II
Paris, anno 1307
Kapitel 5
Der Ritt nach Paris war schrecklich. Talekes Hinterteil schmerzte anfangs derart, dass sie nach dem Absteigen kaum laufen konnte. Sobald sie in einer Pilgerherberge angekommen waren, warf sie sich auf das ihr zugewiesene Lager und schlief trotz der Schmerzen aus Erschöpfung schnell ein. Nicolaus
Weitere Kostenlose Bücher