Die Heilerin von Lübeck
Häusern gerieten und schließlich über die kleine Seinebrücke zur linken Flussseite kamen.
Plötzlich befanden sie sich in einem ganz anders gearteten Stadtteil. Allein die Vielzahl von Kirchtürmen flößte Taleke Respekt ein. Auf den breiten Straßen waren dunkelhaarige Männer in schwarzen Talaren und Baretten unterwegs, die in Würde oder auch lebhaft miteinander disputierten. Manche trugen eine Buchrolle unter dem Arm. Es war eine fremde Welt. Taleke blieb stehen und staunte mit offenem Mund.
»Komm, mach mir keine Schande durch deine Unwissenheit«, knurrte Nicolaus.
»Was machen denn die vielen Huren hier in diesem frommen Stadtviertel?«, flüsterte Taleke und folgte mit den Blicken einer von ihnen, einer grellbunt gekleideten Frau, die am Arm eines Schwarzkittels hing. Vor einer Kapelle küsste sie ihn und eilte davon, während er mit frommem Gesicht das Portal aufdrückte. »Sieh doch mal!«
»Was weiß denn ich? Vielleicht ist sie seine Schwester. Die Kirche ist Saint-Julien-le-Pauvre, wo die Studierenden manchmal Versammlungen abhalten.« Nicolaus zeigte auf ein gedrungen wirkendes Gebäude am Ende des kleinen Platzes. »Und dort ist das Haus der Schweden.« Er führte es vor wie sein Eigentum.
»Ja«, sagte Taleke atemlos, weil sie mit Schauen und Begreifen gar nicht nachkam. Dann entdeckte sie, dass im schwedischen Haus vor allem hellhaarige junge Männer aus und ein gingen, alle guter Dinge, und ihr Benehmen war auch nicht sonderlich würdig, trotz der schwarzen Talare. Sie schwatzten unbekümmert und musterten Taleke ungeniert.
Sie lachte vor Erleichterung. Diese Studenten sahen so aus wie die Männer in der Heimat. Mit ihnen würde sie umgehen können. Sie betrachtete sie abschätzend. Die meisten waren sehnig, mager und hochgeschossen und konnten bestimmt täglich eine Gänsekeule verdrücken. Der Plan einer eigenen Garküche, mit dem sie sich herumschlug, seit sie gesehen hatte, dass in Paris an jeder Ecke eine stand, nahm immer festere Formen an. Und was hätte nähergelegen, als Gänsebraten anzubieten? Da konnte ihr keiner etwas vormachen.
Die Dänen, die nicht weit vom schwedischen Scholarenhaus wohnten, waren wie die Schweden, nur noch lauter und lustiger. Sie alle, einschließlich Nicolaus und Taleke, unterschieden sich von den eher bräunlich getönten Franzosen durch ihre sonnenverbrannte Haut und ihre roten Nasen, auf denen sich die Haut pellte. Und durch ihre Leidenschaft für Schmalz und Butter, das bewies schon die helle Gesichtsfarbe.
»Komm!« Nicolaus packte Taleke am Handgelenk und wollte sie vom dänischen Haus fortziehen.
Sie riss sich von ihm los. »Kann du lide gaas? Har du lyst at spise gaaselever?«, rief sie in ihrem Überschwang einem der Scholaren zu. Magst du Gänse? Hast du Lust auf Gänseleber?
»Selvfølgelig. Hvor er gaaset?« Selbstverständlich. Wo ist die Gans? Der junge Mann, den Taleke angesprochen hatte, drehte sich um, die Hände mit erwartungsvollem Blick in die Seiten gestemmt.
»Was fällt dir ein?«, zischte Nicolaus ihr erbost zu. Mit seinem aus dem Scheckenkragen hochgereckten Hals erinnerte er Taleke an einen angriffslustigen Ganter. »Du kannst dich doch nicht einfach mit einem solchen Kerl gemeinmachen!«
»Wieso gemeinmachen? Ich trage mich mit dem Gedanken, ein Geschäft zu eröffnen. Im Augenblick fühle ich vor, ob es Aussicht auf Erfolg hat. Hast du nicht bemerkt, dass es überall Pasteten, Käse und Brot zu kaufen gibt? So etwas will ich auch machen. Mit Gänsen.«
Das verschlug Nicolaus erst einmal die Sprache. Stumm zog er Taleke mit sich. Der Däne staunte ungläubig hinter ihnen her, wie Taleke sich blitzschnell vergewisserte. Sie winkte ihm hinter ihrem Rücken zu, zum Zeichen, dass die Angelegenheit für sie nicht beendet war.
Nicolaus schwieg nicht lange. Auf dem Weg druckste er herum, murrte leise, als befände er sich im Zwiegespräch mit jemandem, und schließlich kam er im Gewimmel der Menschenmenge auf der Seineinsel mit seinem Unmut heraus. »Weißt du nicht, dass die Dänen unsere Feinde sind?«
»Nein!«
»Sind sie aber. Der dänische König Waldemar musste von unserem Kaiser Friedrich erst besiegt werden, bevor er seine Ansprüche auf Lübeck aufgab. Daraufhin sperrte der Däne die Trave bei Travemünde. Irgendwann erreichten die Lübecker gemeinsam mit den Schwertbrüdern, dass der Papst zu ihren Gunsten einschritt, was nur vernünftig war, denn die Schwertbrüder, die in Livland gegen die Heiden und für
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