Die Heilerin von Lübeck
die Richtung des nahen Tores von Saint-Honoré.
»Des Fürsten de Clisson?«
Taleke bestätigte überrascht.
Daraufhin lachte der andere und breitete die Hände in großer Geste aus. »Sein Krüppel von Koch haut jeden Neuankömmling übers Ohr. Die fürstlichen Köche verarbeiten alles, was bei Festmählern nicht gegessen wird, zu Pasteten, die sie auf eigene Rechnung verkaufen. Die Zutaten sind häufig mehrere Tage alt und verdorben, aber mit dem frischen Brotteig können die Betrüger den fauligen Gestank verbergen. Eine Gaunerei, die kein Magistrat verhindern will – schließlich steckt er mit den Adeligen unter einer Decke, die keinesfalls ihre guten Köche verlieren wollen. Die sind rar. Vor der fetten Unke der Clissons musst du dich besonders in Acht nehmen.«
»Ja«, nickte Taleke beklommen. Ihr eigener Fehler also.
»Kauf deine Pasteten in Zukunft nicht an den Straßen, die zu den Stadttoren führen, sondern in den Gassen, wo die Handwerker wohnen«, riet ihr der Mann gutmütig. »Und immer dort, wo der Andrang am größten ist … Garköche, die sich solche Späßchen erlauben wie die der Fürstenbrut – die natürlich einen Teil der Einnahmen kassieren –, verprügeln wir. Das passiert nur einmal. Danach sind sie ehrlich.«
Taleke hatte das meiste verstanden und sich den Rest zusammengereimt. Jetzt begriff sie auch, weshalb mehr Menschen dem Werben des Pastetenbäckers grinsend zugehört hatten, als seiner Einladung zum Kosten zu folgen. Sie hätte sich ohrfeigen mögen, nicht nachgedacht zu haben.
Nicolaus war heiß wie ein kleiner Straßenofen, als sie in das Zimmerchen zurückkam. Er wälzte sich auf seinem Lager und antwortete nicht auf ihre Fragen, möglicherweise hörte er sie gar nicht. Das Erbrechen hatte aber anscheinend aufgehört.
Diese Hitze über längere Zeit würde seinem Körper schaden, daran erinnerte sich Taleke noch aus den Vorträgen ihrer Mutter, er konnte daran sogar sterben. Könnte sie sich doch nur an die Heilkräuter erinnern, die Mutter Hilka aufgezählt hatte! Allerdings sollte in diesem Fall Mädesüß helfen können, weil noch kein Tröpfchen Schweiß auf Nicolaus’ Stirn getreten war.
Außerdem Wadenwickel mit nassen, kalten Tüchern. Als alles so gut erledigt war, wie sie es vermochte, lief sie los, um Mädesüß zu besorgen. Es war die richtige Jahreszeit, um die Blüten zu pflücken, und sie hatte sie im Vorbeigehen bei der Kräuterfrau gesehen.
Kaum war Taleke die Treppe hinuntergestolpert, merkte sie erst, wie schlapp sie sich selbst fühlte. Ihre Beine fühlten sich weich an, als wäre sie wieder wie in Schönrade dabei, Dung von Kühen, Pferden und Menschen mit nackten Füßen für die Felder zu kneten.
Das war vorbei. Grimmig entschlossen kämpfte sie sich vorwärts zum Kräutermarkt vor der großen Brücke. Am Stand, an dem sie Mädesüß gesehen hatte, war das Kraut anscheinend ausverkauft! »Herbes«, brachte Taleke fragend hervor.
»Fines herbes«, bestätigte die Frau und zeigte auf Büschel von Majoran, Thymian, Melisse und was sie sonst noch im Angebot hatte, alles Küchenkräuter, die im Garten von Talekes ehemaliger Herrschaft angebaut worden waren.
»Nein, nein«, stammelte Taleke aus Furcht, sie könnte sich am Ende nicht verständlich machen, klopfte auf ihren Magen, hustete gekünstelt und machte eine leidende Miene.
»Aah. Herbes médicinales.«
Taleke nickte eifrig. Medizinische Kräuter, mit denen sich Nicolaus in
lectio
und
disputatio
befassen würde. Sie folgte dem einladend winkenden Zeigefinger der Marktfrau und entdeckte in einem der beschatteten Körbe unter dem Tisch tatsächlich frühe Blüten von Mädesüß. Ihr fiel ein Stein vom Herzen.
Die Heilkraft der Pflanze zeigte sich allein schon darin, dass Talekes Beine sie auf dem Rückweg besser trugen als auf dem Hinweg.
Nicolaus’ Zustand war unverändert, aber nachdem Taleke die Wadenwickel erneuert hatte, schien er ihr einen Hauch kühler. Dann traten Schweißtropfen auf seine Stirn, und er schlug die Augen auf. Jetzt war er wach genug, um Schlucke Wasser zu sich zu nehmen, die er bei sich behielt.
Da erst traute Taleke sich, ihm den Sud aus den Blüten, die sie wie eine reiche Bürgerin in Wein gekocht hatte, einzuflößen. Die Mutter hatte gesagt: »Die Blüten von Mädesüß, in Wein gekocht und getrunken, befreien von stürmischer Hitze im Körper. Ich habe dafür nur Wasser, und das ist gut, aber manche Menschen können sich Wein leisten, und das ist
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