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Die Heilerin von Lübeck

Die Heilerin von Lübeck

Titel: Die Heilerin von Lübeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari Köster-Lösche
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vorzulesen und Übersetzungen für ihn aufzuschreiben. Immer häufiger verstand sie die lateinisch geschriebenen Anweisungen, deren Formeln sich wiederholten.
    Im Herbstmonat, dem Witumanoth, forderte Nicolaus Taleke auf, mit ihm in die Bibliothek bei Saint-Severin im Quartier Latin zu gehen. Er hatte von Meister Josse auf einem großen Bogen Pergament eine ganze Liste von Titeln erhalten, die er durcharbeiten sollte. Die konnte er sich nicht mehr nebenbei von einem der Freunde mitbringen lassen.
    Sie freute sich über sein Vertrauen und wunderte sich nicht, als sie in dem ehrwürdigen Gemäuer nur Männer erblickte, viele mit Tonsur, einige ohne. Auch Nicolaus hatte sich vornehm in Talar und Bonnet geworfen.
    Während Taleke dem Meister der Buchrollen die benötigten Titel nannte, merkte sie, dass sie an diesem Ort Verwunderung auslöste. Aber Nicolaus hatte ihr schon zu Hause erklärt, dass es nicht darauf ankomme, wer die Buchrollen abhole, sondern nur, wer sie lese.
    »Auch mein Hund oder mein niedrigster Knecht dürfte Bücher einfordern«, hatte er ihr erläutert. »Hauptsache, man kann angeben, dass sie für den Lehrling des Maître Josse bestimmt sind.«
    Sehr schmeichelhaft. Nicolaus war ein Rauhbein, aber Taleke hatte sich angewöhnt, solche Sprüche zum einen Ohr herein- und zum anderen wieder hinauszulassen, und freute sich auf die neuen Werke.
    Glücklicherweise hatte der Bibliothekar mehrere Kopien der Bücher, die Nicolaus ausleihen wollte. Das
Corpus Constantinum
jedenfalls war vorhanden, ein äußerst umfangreiches Werk, in dem zu lesen waren: die
Isagoge in artem parvam,
die Aphorismen und das
Prognostikum
von Hippokrates, das
Liber de urinis
sowie das
Viaticum,
ein Kompendium arabischer Quellen. Schließlich schleppte der Buchmeister das
De naturibus herbarum
heran, das von einem Odo aus Magdeburg stammen sollte.
    »Herr im Himmel«, stöhnte Nicolaus. »Das alles soll ich lesen?«
    »Immerhin ersparen Euch unsere Vorschriften,
De animalibus
von Aristoteles durchzuarbeiten«, bemerkte der Hüter der Bücher streng. »Das ist ein verbotenes Werk. Ich weiß gar nicht, was sich Euer Lehrherr Maître Josse dabei gedacht hat! Ihm ist doch bekannt, dass das Buch nur an Theologen ausgegeben wird.«
    Nicolaus zuckte die Schultern.
    »Die Gebühr für das Ausleihen beträgt vier Turnosen.«
    »So hoch?«, beschwerte sich Nicolaus.
    »Ihr könnt auch eigene Bücher als Pfand hinterlegen, wenn Ihr welche habt. Wir schreiben sie ab«, bemerkte der Bibliothekar steif. »Wenn nicht, bezahlt Ihr beim ersten Mal für jedes Buch und tauscht ab da Buch gegen Buch. Die Gelder für das Ausleihen fließen alle in neue Manuskripte, in die Kopierkosten und in unsere Kataloge. Der jüngste Katalog stammt aus dem Jahr des Herrn zwölfhundertundneunzig, und ich wünschte, wir könnten bald den neuen herausgeben. Wenn alle so knauserten wie Ihr, bräuchten wir dafür noch zwanzig Jahre.«
    Mürrisch zählte ihm Nicolaus den geforderten Betrag auf die Theke, während Taleke interessiert ein Werk musterte, das anscheinend auf seinen Besteller wartete:
Trotula de passionibus mulierum curandorum,
Trotula über die Leiden der Frauen. Da hinein hätte sie sich vertiefen mögen!
    »Wenn Ihr den Lesesaal benutzen möchtet, darf die Frau nicht mit hinein«, mahnte der Bibliothekar, während er das Wechselgeld abzählte. »Ich hoffe übrigens, dass Ihr nicht so dreist wart, Eure Hure hierherzubringen.«
    »Eine Hure, die lesen kann? Natürlich ist sie keine«, versetzte Nicolaus knapp. »Sie liest zu Hause!«
    Erst allmählich ging Taleke das Ungeheuerliche dieses Wortwechsels auf, aber sie verzichtete darauf, sich mit dem Bibliothekar zu streiten.
    Zu Hause angekommen, interessierte sie sich für das Kräuterbuch von Odo, während Nicolaus Hippokrates durcharbeiten wollte. Weil er aber darauf bestand, dass sie ihm vorlas, kam es darüber dann doch noch zu einem kleinen Streit. Erstmals kam Taleke der Gedanke, dass Nicolaus womöglich nicht nur ungern las, sondern auch gar nicht so gut lesen konnte, wie sie ihm unterstellt hatte.

Kapitel 8
    Der Weinmonat brach an und mit ihm die Gänsemast. Die Tiere sahen schon stattlich aus, aber sie waren auch wehrhafter als im Erntemonat. So verweigerten sie Rübenschnitze, die sie anfangs angenommen hatten. Taleke hatte das Gefühl, als ob sie jeden einzelnen Schnitz durch die Gänsekehle pressen musste. Die Langsamkeit, mit der dies vonstattenging, würde nie zu einer erfolgreichen Mast

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