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Die Heilerin von Lübeck

Die Heilerin von Lübeck

Titel: Die Heilerin von Lübeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kari Köster-Lösche
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war, erschien ihr wie ein kleines Wunder.
    Sie gab sich einen Ruck und eilte hinter den Kindern her, die einen Raum mit Stehpulten betraten. Die beiden Mädchen steckten die Köpfe zusammen, kicherten in Talekes Richtung und schlugen die bereitliegenden Wachstafeln auf und zu, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ihr war es egal.
    Sechs Mädchen im Alter von zehn bis dreizehn Jahren, schätzte Taleke, waren schließlich versammelt, und dann trat Mutter Emihild in das Schulzimmer.
    Taleke wurde von den Schülerinnen, die offenbar sämtlich aus begüterten Häusern stammten, über die Schulter angesehen, nachdem der Unterricht mit Schreibübungen begonnen hatte. Die Mädchen kannten alle Buchstaben, Taleke dagegen erinnerte sich nur an das Wort, das auf dem Schild am Kaak gestanden hatte.
Bierpanscherin,
malte sie hin, ohne es lesen zu können.
    »Ist das das Einzige, was du schreiben kannst? Galt das dir?«, fragte Emihild entsetzt, die gerade an Talekes Pult vorbeikam. »Bierpanscherin ist doch ein deutsches Schimpfwort, oder? Betrügerinnen nehmen wir nicht auf.«
    Nein. Taleke versuchte zu erklären, was ein Pranger in Lübeck bedeutete.
    Mutter Emihild verstand. »Paris hat seinen Pranger am Place de Grève, zusammen mit Galgen und Richtblock«, bemerkte sie, schlug schaudernd das Kreuz und sah Taleke forschend an. »Nun gut, ich glaube dir, dass du nicht aus Lübeck geflüchtet bist, um dem Pranger zu entgehen.«
    »Nein, nein«, beteuerte Taleke.
    Das Rechnen auf Linie lernten sie hier genauso, wie Nicolaus es ihr gezeigt hatte. Taleke war schneller mit der gestellten Aufgabe fertig als alle anderen, und Emihild hob für einen Augenblick anerkennend die Augenbrauen und nickte ihr wohlwollend zu.
     
    Taleke durfte das Wachstäfelchen und den Griffel zum Üben mit nach Hause nehmen. Am anderen Ende besaß der spitze Beingriffel eine flachgeschliffene Kante, mit der sie die geübten Buchstaben verstreichen und löschen konnte. Sie war so begeistert davon, dass sie immer noch an ihrer selbstauferlegten Aufgabe saß, als Nicolaus heimkehrte.
    »Heute stank es nicht, heute lief Blut aus einem Kind, als hätte ein Metzger es geschlachtet«, berichtete er und ließ sich stöhnend auf sein Lager nieder.
    »Habt ihr es retten können?«
    Nicolaus zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Für den Augenblick wohl, aber der Vater wird sicher bald wieder auf den Jungen losgehen. Das Kind stiehlt. Es ist der Sohn des Henkers.«
    »Vielleicht hat er Hunger.«
    »Hunger! Du solltest dich lieber fragen, ob es gut ist, wenn ich bei einem Meister lerne, der unehrliche Leute behandelt! Das spricht sich herum.«
    »Nicht bis Lübeck! Und dir wird es sicher zugutekommen, wenn du lernst, wie man schwere Verletzungen behandelt.«
    Nicolaus warf ihr einen Blick zu, der vermutlich in Ratsherrenkreisen gegenüber Gewürm angebracht war. Dann deutete er mit spitzem Finger auf ihr Schreibtäfelchen. »Was machst du da?«
    Sie hob das Kinn. »Ich übe schreiben.«
    »Das kannst du gar nicht! Frauen deines Standes lernen nicht schreiben.«
    »Ich weiß nicht, welchem Stand du mich zuordnest«, widersprach Taleke mit aller Würde, die sie aufzubringen vermochte. »Ich bezweifle auch, dass Schreibkünste vom Stand abhängig sind. Die Beginen in der Straße der Lombarden haben mich ohne Befragung zum Unterricht angenommen. Die ersten acht Buchstaben beherrsche ich schon.«
    »Beginen!« Nicolaus’ abfälliger Ton war nicht zu überhören. Plötzlich aber wuchtete er sich in die Höhe und bemühte sich zu Taleke, die an der Fensteröffnung saß, wo es am längsten hell war. »Lass sehen!« Er legte den Finger auf ihre Buchstaben. »Ah, bb, de, e, f, ggh … Tatsächlich. Kannst du sie denn auch lesen?«
    Unter Beherrschen verstand Taleke flüssiges Lesen und Schreiben. Doch sie äußerte sich dazu nicht, sondern wunderte sich still über Nicolaus’ holprige, unvollständige Vortragsweise. Aus Emihilds Mund hatten die Buchstaben wie ein langes, zärtliches Lied geklungen. Gern las er nicht, jetzt wurde es ihr plötzlich klar. Sie hielt den Atem an. Manchmal regte er sich fürchterlich über Kleinigkeiten auf.
    Dieses Mal war es anders. »Sieh zu, dass du ganz schnell lesen lernst«, befahl Nicolaus barsch, warf sich auf sein Lager und begann ein Pergament aufzurollen, in das er hineinblickte. Dann rutschte ihm das Schriftstück aus den Händen, und sein Kopf sank nach hinten.
    Taleke angelte das Schreiben zu sich heran. War es Französisch oder

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