Die Heilerin von Lübeck
satt! Fang sofort an!« Die Wut blitzte in seinen Augen.
Sie erlosch erst, als Taleke zum Tisch eilte und die Abhandlung zur Hand nahm. Während sie las, kam ihr der Gedanke, dass Nicolaus tatsächlich kaum lesen konnte. Sein Sehvermögen war gut, das hatte sie mehrfach beobachtet, daran lag es nicht. Aber warum gestand er dann nicht einfach ein, dass er ein miserabler Leser war?
Die Dunkelheit senkte sich schon über Paris, als sie endlich mit dem Text fertig waren. Nicolaus hatte nebenher einen Bissen nach dem anderen gelöffelt, obwohl er angeblich satt war, aber ihr Magen war leer geblieben.
Nicolaus’ akribische Fragen wunderten Taleke, denn Pest und Blattern gehörten ganz bestimmt nicht zum Aufgabenbereich eines Chirurgen. Eher noch zu ihrem eigenen, denn Razes gab auch Ratschläge, wie man die unschönen weißen Narben zu entfernen hatte, die bei Frauen jeden Gedanken an eine Heirat zunichtemachen konnten. Bevor sie ihre Neugier in eine harmlose Frage kleiden konnte, fiel ihr ein, dass er nach dem Buch von Razes überhaupt nicht verlangt hatte.
»Soll ich dir die Beschreibung der Blattern und ihre Behandlung auch vorlesen?«, fragte sie.
»Nicht nötig. Mir reicht die Beschreibung eines kolossalen Spaßes in Rom. Diese Kaiser waren ja wirklich erfinderische Männer!«
»Ja, Männer waren sie«, bestätigte Taleke ohne jede Bewunderung für solche Taten.
»Am besten wäschst du jetzt die Schüsseln ab und schaffst das Waschwasser fort, damit wir heute Nacht nicht von Mücken belästigt werden.«
»Ja, gleich«, murmelte Taleke. »Ich muss dir noch etwas zeigen.« Schnell schrieb sie
Bierpanscher
auf ihre Wachstafel, das Wort, das die Sünderin am Lübecker Kaak angeklagt hatte, und zeigte dann darauf. »Was heißt das? Ich habe es nie begriffen.«
»Bierpuscher«, buchstabierte Nicolaus stotternd. »Nein, Bierpfuscher. Wo hast du es her?«
»Erinnerst du dich an das Weib des Bierbrauers am Kaak? Das war offensichtlich ihr Verbrechen.«
»Ach so. Ja, sie galt als Bierpanscherin«, antwortete Nicolaus und überging wortlos seinen Lesefehler.
»Ein merkwürdiges Verbrechen für eine Frau«, sinnierte Taleke. »Braute sie selbst das Bier, in dem sie herumpfuschte? Oder braute der Ehemann, und sie verkaufte auf eigene Rechnung die Menge, die sie dadurch gewonnen hatte?«
Nicolaus schürzte nachdenklich die Lippen. »Keine Ahnung. Aber ich vermute, dass er braute und sie fälschte – ohne dass er davon wusste.« Dann schob er den Weinkrug von sich weg und leckte sich die Lippen. »Es wird Zeit, dass ich mal wieder ein gutes Hopfenbier zu kosten bekomme. Manchmal habe ich geradezu Sehnsucht nach Lübeck.«
Taleke seufzte. »Ja, Lübeck. Ich habe es kaum kennengelernt, aber was ich gesehen habe, gefiel mir. Der Rathausplatz mit den Ratsherren, die sich zwischen den Sitzungen würdig die Beine vertraten … Jedermann grüßte sie ehrerbietig und trat höflich beiseite, um ihnen Platz zu machen.« Beiläufig klappte sie die Wachstafel zu, damit Nicolaus das Wort, mit dem sie ihn überführt hatte, nicht mehr in die Augen fiel und womöglich seinen Unmut auslöste.
»Wenn mir die Chirurgie auf Dauer nicht zusagt, hänge ich den Talar an den Nagel und beschränke mich darauf, dereinst den Platz meines Vaters im Lübecker Rat auszufüllen.« Nicolaus grinste und faltete die Hände hinter dem Kopf.
»Und ab und zu laufen wir uns auf dem Rathausplatz vielleicht über den Weg«, ergänzte Taleke. »Ich möchte später einmal auch nach Lübeck zurück. Dort kann ich bestimmt viel günstiger als hier Hafer kaufen. Und dann Gänse nach französischer Art mästen. Ich denke, die Lübecker werden sich sämtliche Finger nach französisch zubereiteten Gänsen lecken. Bietet dein Vater Hafer feil?«
Nicolaus lachte lauthals. »Aber doch nicht in so kleinen Mengen, dass er an dich verkaufen würde! Er ist kein Krämer, sondern Fernhändler. Was glaubst du denn, mit wem du in Paris bist?«
»Nun, mit dem Sohn des Fernhändlers, einem künftigen Ratsherrn«, schmeichelte Taleke und verabscheute sich selbst dafür.
»Eben«, sagte Nicolaus befriedet.
Taleke aß die Reste, die Nicolaus übrig gelassen hatte, und trödelte noch mit ihrem Haushalt herum, es eilte ihr nicht mit dem Bett. Als sie Nicolaus schnarchen hörte, war endlich Gelegenheit, ihre Gedanken ungestört auf das zu richten, was sie in Erfahrung gebracht hatte. Sie hatte nachgewiesen, dass Nicolaus tatsächlich kaum lesen konnte, da hatten es
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