Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Sie rannte sie entlang, doch sie entpuppte sich als Sackgasse. Hoch oben an der Wand befand sich ein Schrein der Mutter und ihres Kindes, der von einem wie ein warnendes Leuchtfeuer flackernden Kerzenstummel angestrahlt wurde.
Wie erstarrt blickte sie zu dem Bild auf. Seit sie in der Stadt war, hatte sie an sämtlichen Ecken solche Szenen gesehen. Aber hier ruhten die Augen der Mutter nicht liebevoll auf ihrem Sohn, der nach ihrem lächelnden Gesicht griff: Dies war eine Ikone einer älteren Christenheit. Hier blickten Mutter und Sohn, deren Gesichter sich nur durch die Größe unterschieden und hinter deren Köpfen Goldreifen schimmerten, sie direkt an und beschuldigten sie, sich eines Gottes bedient zu haben, der nicht der ihre war.
Die Vergeltung nahte.
Ihr Verfolger war dicht hinter ihr.
Von Panik erfasst, drehte sie sich schließlich um und sah eine schwarze Gestalt, hoch gewachsen wie ein Baum und gesichtslos unter einer schwarzen Kapuze, am Ende der Gasse stehen.
Er schritt langsam auf sie zu und wusste, dass sie in der Falle saß. Sein Umhang bauschte sich in der Brise, und nackte Angst würgte sie in der Kehle. War das Tod, der noch immer durch die Straßen streifte und jetzt gekommen war, um ihre Schulden bei dem Christengott einzufordern?
Er kam näher. »Feyra Adalet bint Timurhan Murad«, sagte er in ihrer eigenen Sprache. »Ich habe lange nach dir gesucht.«
Er schlug die Kapuze zurück.
Es war Takat Turan.
35
»Ich war derjenige, der dich angezeigt hat.«
Die Worte hingen in der Luft wie Leichen an einem Galgen.
Feyras Augen weiteten sich. Sie blickte in Takat Turans Gesicht. Er war dünner, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber noch immer ordentlich und gepflegt, sein Bart war gestutzt, sein Haar eingeölt. Es waren die Augen, an die sie sich am deutlichsten erinnerte, pechschwarz und von einem namenlosen Feuer erfüllt. Sie dachte daran, wie er sie vor der Besatzung der Il Cavaliere gerettet hatte. »Warum?«
»Ich war sieben Tage lang todkrank, ich konnte nicht zu dir und deinem Vater in die Ruine der Ungläubigen zurückkehren. Als ich mich so weit erholt hatte, um zu dem Tempel zu gehen, in dem ich euch zurückgelassen hatte, fand ich dort nur einen Steinmetztrupp bei der Arbeit vor, und ihr wart fort. Ich fürchtete, ihr wäret tot, aber ein Bootsmann erinnerte sich an dich, wenn auch nicht an deinen Vater.« Takat Turan senkte den Kopf. Seine respektvolle Geste stand in seltsamem Gegensatz zu dem, was er ihr enthüllte. »Von da an hielt ich die Augen offen und wartete und fand dich schließlich im Haus des Architekten.«
Feyra spürte, wie Zorn in ihr aufwallte. Sie fuhr auf ihn los. »Warum hast du das getan? Warum hast du mich in Gefahr gebracht? Du, der mich beschützt hat. Du, der meinem Vater bis zu seinem Tod gedient hat!«
Takat Turan hob die Hände, als wäre er überrascht. »Ich wollte dich näher an den Dogen heranbringen. War das nicht dein Wunsch? Wenn du verhaftet worden wärst, hätte man dich in den Bauch seines Palastes gebracht, wo sich die Verliese befinden.«
»Damit ich verhört und gefoltert werde?« Sie machte aus ihrem Entsetzen kein Hehl.
»Wenn es das ist, was unser Herr verlangt, müssen wir es ertragen.«
Feyra begann sich plötzlich vor ihm zu fürchten. Was er sagte, klang vernünftig, aber die Bedeutung seiner Worte zeugte von Wahnsinn. Jetzt konnte sie dem in seinen Augen lodernden Feuer einen Namen geben. Er war ein wahrer Fanatiker.
»Wie sollte mir das helfen, den Dogen zu sprechen?«
»Ihn sprechen?« Takat Turan lachte. Das unpassende Geräusch hallte durch die Gasse. »Ihn töten, meinst du wohl? Sind wir nicht deswegen hier?«
Feyra wich einen Schritt zurück. Ihre Schulterblätter berührten die kalten Steine des Palazzos hinter ihr. Sie zwang sich zu schweigen.
»Aber dann bist du verschwunden, und ich habe dich nicht wiedergesehen. Ich habe mir alles Notwendige beschafft und, als der Tag näher rückte, beschlossen, alleine zu handeln.«
Er öffnete seinen Umhang und entnahm ihm einen kleinen, schlammigen Ball. Wieder fielen ihr seine fehlenden Finger auf.
»Persisches Naphtha«, erklärte er. »Bei den Kreuzfahrern sehr beliebt, die brennbarste Substanz, die Menschen kennen. Du siehst, es ist alles bereit. Wir müssen nur noch die Details ausarbeiten.« Er umfasste ihre Schultern mit einem eisernen Griff. »Und dann entschied Gott, dass ich dich wiederfinden sollte, in Ketzerkleidern, in denen du heidnische Lügen erzähltest,
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