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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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und früher an diesem Abend wie ein Geist wieder aufgetaucht war. Er hatte der Geschichte verblüfft gelauscht, beschämt darüber, dass sie diese Bürde alleine hatte tragen müssen. Sie hatte ihm kleinlaut gestanden, welche Rolle ihr Vater in diesem Plan gespielt hatte, und er hätte sie am liebsten in die Arme geschlossen und ihr versichert, dass sie keine Schuld an dem Verbrechen ihres Vaters und dem Unheil trug, das über die Stadt hereingebrochen war. Seit sie nach Venedig gekommen war, hatte sie ständig versucht, Wiedergutmachung zu leisten, und als sie ihn dann bat, weiteres Blutvergießen zu verhindern, konnte er nichts anderes tun, als ihr zu helfen.
    Verwirrt darüber, wie anders sie die Welt durch die Augengläser des Arztschnabels wahrnahm, achtete Feyra sorgfältig darauf, wo sie ihre Füße hinsetzte. Sie sah die Stadt so, wie er sie sah, und das empfand sie als beunruhigend. Der Abstand, den der Schnabel zwischen einem Arzt und seiner Umwelt schuf, erschien ihr wie eine sehr große Kluft. Kein Wunder, dass Mitgefühl selten über den Rand der Maske hinausdrang.
    Sie näherten sich dem Campanile. Am Fuß des großen roten Glockenturms stand ein vergoldeter Käfig von der Größe einer Barke. Darin schritt ein großer Löwe auf und ab, das Fleisch gewordene Symbol Venedigs. Feyra blieb stehen, um das Ungeheuer eingehender zu betrachten. Das Fell war struppig und scheckig, anstatt golden zu glänzen, und die zottige Mähne wirkte flohverseucht und räudig. Nur die Augen glänzten, weil sich das Licht der sinkenden Sonne darin fing und sie so bernsteinfarben schimmern ließ wie ihre eigenen, aber nichts konnte über das Elend des Tieres hinwegtäuschen.
    »Das ist der Löwe des heiligen Markus«, sagte Annibale. »Der Consiglio hält hier dauerhaft ein lebendiges Exemplar. Wenn dieser stirbt, besorgen sie einen neuen. Er soll«, fügte er voller Ironie hinzu, »der Stadt Glück bringen.«
    Feyra hätte nie gedacht, Mitleid mit ihrer Nemesis empfinden zu können, aber sie hatte auch nicht gewusst, dass ein Löwe so aussehen konnte. Er wirkte bereits besiegt. Sie wandte sich ab, und sie und Annibale überquerten die breite Straße zum Dogenpalast.
    Gemeinsam erreichten sie die weiße Treppe mit den beiden Wache stehenden Alabasterriesen, die aus leeren Marmoraugen auf sie hinabstarrten. Als sie die Stufen emporstiegen, zitterten Feyras Knie leicht, weil sie sich an das erste Mal erinnerte, als sie diese Treppe erklommen hatte, und die beiden Wachposten wiedererkannte, die sie damals verfolgt hatten.
    Oben angekommen, berührte Annibale seine Stirnlocke und wandte sich an die beiden Wächter, die ihm mit gekreuzten Hellebarden den Weg versperrten. »Dottore Annibale Cason bittet um eine Audienz beim Dogen«, sagte er unterwürfig.
    Die Wächter blickten nicht ihn, sondern Feyra mit der Schnabelmaske an. »Euer Zeichen, Signor Dottore«, verlangte einer.
    Feyra hielt ihm das Siegel des Dogen hin, das auf der Handfläche ihres schwarzen Handschuhs schimmerte. Der Wächter griff danach und drehte es um. Sie betrachtete die Metallscheibe gemeinsam mit ihm; den Dogen und den heiligen Markus auf der einen und den Hirtenpropheten alleine auf der anderen Seite, wie auf dem Dukaten, den sie unter ihrem Arztumhang in der Bandage trug, die ihre Brüste flachpresste.
    Sie wartete. Sie konnte nicht glauben, dass sie endlich doch noch den Dogen sehen würde. Sebastiano Venier, Admiral von Lepanto und Herzog von Venedig: ihr Großonkel.
    Zu Feyras Überraschung reichte das Siegel aus, die Hellebarden wurden gesenkt und sie beide durchgewunken. Einer der Wächter bedeutete einem Diener in einer weinroten und goldenen Livree, ihnen den Weg zu weisen. Sie fühlte einen leichten Stoß im Rücken und ging voraus, da ihr wieder einfiel, dass sich Annibale als ihr Diener hinter ihr halten würde. Beim Gehen wiederholte sie im Geist die Geschichte vom Tod ihrer Mutter, dem Sarkophag auf dem Schiff, ihrem Vater und Takat Turan und dem nahenden Feuer.
    Der Diener führte sie durch einen palastartigen steinernen Gang, der sich in einen riesigen Saal öffnete. Feyra hatte im Topkapi-Palast viele Wunder der Baukunst gesehen, war aber nie in einem solchen Raum gewesen: Dieser einzelne Saal war so groß wie das Innere der Hagia Sophia. Jeder Zoll der Wände war mit ländlichen Szenen bedeckt, die Decke passend dazu in einen tiefblauen, mit Sternen übersäten und mit pausbäckigen Engeln geschmückten Himmel verwandelt worden. Hoch in

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