Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
den Wolken prangten die Bilder von Dutzenden von Dogen mit Schriftrollen an den Hälsen, auf denen ihr Geburts- und Todesdatum vermerkt war. Feyra erschauerte. Wenn es ihr nicht gelang, dem Dogen ihre Botschaft auszurichten, könnte er sich zu seinen Vorgängern gesellen, mit dem heutigen Tag als Todesdatum.
In einer unsichtbaren Kammer ertönten Schritte, die Tür wurde geöffnet, und ihr Herz machte einen Satz. Dann keimte Hoffnung in ihr auf und erstarb wieder, als der Camerlengo den Raum betrat.
»Dottore Cason?«, sagte er. Feyra erinnerte sich von dem Verhör her, dem er sie in Palladios Haus unterzogen hatte, an seinen wohlmodulierten Tonfall: der Mann, der in Fragen sprach. Das Blut gefror ihr in den Adern. Sie nickte und der Schnabel fuhr vor ihrem Gesicht hinab wie eine Henkersaxt.
»Kommt Ihr wegen des Architekten? Stimmt etwas nicht?«
Sie schwieg, und auch Annibale konnte nicht antworten, denn dann hätte der Camerlengo gemerkt, dass er der echte Arzt war. Sie schüttelte den Kopf, wobei der Schnabel diesmal hin und her schwang. Ihr Herz hämmerte so stark, dass sie es innerhalb der Maske hören konnte. Einen Moment lang herrschte bedrückende Stille, während der Camerlengo ungeduldig mit den Füßen scharrte. »Wie Ihr wisst, fungiere ich sozusagen als Sprachrohr zwischen der Welt und Seiner Exzellenz. Mein Herr wird gleich erscheinen, aber dürfte ich zuerst erfahren, was Euch hierherführt?«
Feyra spürte, wie Annibale sie am Arm zupfte. Sie erwog, den Schnabel abzunehmen und sich an dem Camerlengo vorbeizudrängen oder in Richtung der Schritte zu rennen, die sie jetzt näher kommen hörte. Doch just in diesem Moment brach links von ihr ein Tumult aus.
In einer kleinen Tür, die zu dem zierlichen Steinbogen einer Brücke führte, erschien die massige Gestalt eines Wächters. Er zerrte einen an ihn geketteten Gefangenen hinter sich her, und ein weiterer Wächter folgte ihm. Der Camerlengo drehte verärgert den blonden Kopf zu ihm. »Entschuldigt Ihr mich einen Moment?«, fragte er. »Ein Gefangener, der verhört werden muss. Bringt ihn in die Kammer und wartet dort auf mich«, befahl er dem Wächter. Nichts in seiner Stimme verriet, was dem Gefangenen bevorstand. »Ist dir nicht klar, dass mein Herr, der Doge, hier gleich eine Besprechung hat? Glaubst du, wir können so eine Störung gebrauchen?«
Auch Feyra drehte sich um. Annibale zog sie erneut am Arm. Er wollte die Ablenkung zur Flucht nutzen.
Die Schritte des Dogen wurden lauter.
Der Gefangene kam in Sicht. Seine Augen glühten, und sie wusste Bescheid.
Während sie ihn voller Entsetzen beobachtete, schien das Feuer in seinen Augen sein Herz in Brand zu setzen, und sein Wams explodierte. Das Feuer rann an seinen Armen hinunter, und der Wächter, an den er gekettet war, schrie gellend auf, als das Naphtha seinen Körper verschlang. Der unselige Mann rannte, seinen brennenden Gefangenen hinter sich herziehend, zu den voluminösen Vorhängen am Fenster, riss den Samt herunter und hüllte sie beide darin ein, als die Flammen sie umzüngelten. Doch die Vorhänge fingen gleichfalls Feuer, und die Flammen schossen von ihnen zu der bemalten Decke hoch, wo die Farbpigmente in Brand gerieten und feurige Tropfen auf die unten Stehenden herabregneten.
Als Annibale sie wegzerrte, sah Feyra den Camerlengo in die innere Kammer stürzen und erkannte hinter der Tür eine schattenhafte Gestalt mit einem hohen weißen Hut, bevor Rauchwolken die Sicht auf die beiden Männer versperrten.
Während ihrer Flucht aus dem Saal vergaßen Feyra und Annibale ihre Tarnung und brüllten allen, die ihren Weg kreuzten, zu, sofort den Palast zu räumen. Annibale schob sie auf die große weiße Treppe zu, und sie polterten die Stufen hinunter. Gerade als sie den Fuß der Treppe erreichten, fiel Feyra ein, dass die Küchenmeister beim letzten Mal, als sie hier gewesen war, Brot für die Armen gebracht hatten.
Sie packte Annibale am Arm. »Die Dienstboten!«, übertönte sie die Schreie und den Rauch. Sie stürmten in die Keller und Küchen des Palastes zurück, schlugen Alarm und scheuchten die Legionen von Dienern auf den Platz hinaus. Draußen schlug ihnen eine Kakophonie von Schreien und Rufen, Glockengeläut und hervorgestoßenen Gebeten entgegen, und über allem dröhnte das albtraumhafte Gebrüll des Löwen des heiligen Markus.
Feyra und Annibale drehten sich um, um das Inferno zu betrachten. Das Maßwerk der Palastfenster bildete jetzt schwarze
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