Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
die kleine Flasche mit Theriak fest umklammernd.
Als Salve an dem Brunnen mit dem Löwen und dem Buch vorbeikam, ließ er den Theriak hineinfallen. Dann schritt er so schnell auf das Tezon zu, wie ihn seine kurzen Beine tragen wollten.
Wenn er über das nachdenken würde, was Feyra zu ihm gesagt hatte, würden sich die Worte wie eine Schlange um sein Herz wickeln und es zerdrücken, und er würde verbluten. Er wollte zu dem einzigen Menschen, auf den er sich immer hatte verlassen können. Bocca hatte zwar nicht mit herabsetzenden Bemerkungen gespart und mit ihm geschimpft, seinen missgebildeten Sohn aber trotzdem geliebt, Fleisch in den deformierten Mund geschoben und den verkrümmten Körper mit Kleidern bedeckt. Er hatte ihn nicht im Stich gelassen, so wie Salves Mutter es getan hatte.
Salve musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um die Tür des Krankenhauses zu öffnen. Nur noch drei Patienten lagen in dem langen, von einem Kohlenbecken, in dem Zinnober und Myrrhe brannten, erleuchteten Raum. Hinter dem zweiten Vorhang, den er zurückzog, fand er Bocca.
Salve beugte sich über den Leichnam, und erst jetzt ließ er seinen Tränen freien Lauf. Bocca konnte ihn nicht mehr hören, also konnte er ruhig sprechen. Er stieß das erste Wort hervor, das er je zu seinem Vater gesagt hatte. »Papa«, krächzte er und lauschte dem durch die Dunkelheit hallenden Wort nach.
Dann legte er sich neben den noch warmen Leichnam, zog seinen Vater an sich und wartete auf den Tod.
38
Feyra beweinte Salve so bitterlich wie nie einen Patienten zuvor.
Sie hatte Salve mehr als irgendjemand sonst in seinem Leben vernachlässigt und gequält, indem sie sich erst mit ihm angefreundet und ihm dann ihre Freundschaft wieder entzogen hatte, um sich einem anderen zuzuwenden. Es wäre besser gewesen, ihn in Ruhe zu lassen, nie eine Freundschaft entstehen zu lassen, die zu pflegen sie sich nie die Mühe gemacht hatte. Sie sagte wieder und wieder seinen Namen, weinte, bis ihr Schleier durchweicht war. Dann richtete sie ihn eigenhändig her, damit er neben seinem Vater begraben werden konnte. Sie küsste seine missgebildete Wange, und als sich die Totenstarre löste und seine Hand sich öffnete, sah sie ihren Dukaten darin. Sie küsste die Münze ebenfalls und schob sie in ihr Mieder zurück, worin sie so lange gelegen hatte.
Nachdem sie den Torhüter und seinen Sohn dahingerafft hatte, schien die Pest der Insel abrupt den Rücken zu kehren.
Aus Venedig erreichte sie die Nachricht, dass vier der sechs sestieri jetzt pestfrei waren. Feyra vermutete, dass das reinigende Feuer, von dem Takat gesprochen hatte, sich gegen ihn gewandt und die giftigen Ausdünstungen vernichtet hatte, die den Toten entströmt waren.
Als sich das Tezon leerte, weil die letzten Patienten starben oder gesund wurden, begann Feyra sich zu fragen, was die Zukunft für sie und Annibale bereithielt. Er hatte den Antrag, den er ihr einst gemacht hatte, nie wiederholt, aber sie meinte, auch glücklich sein zu können, wenn sie als seine Kollegin und Freundin hier bei ihm blieb. Aber ohne Patienten konnte man kein Krankenhaus betreiben. In der letzten Zeit verordnete sie häufiger Rinde gegen Zahnschmerzen oder Borretsch, um Mondblutungskrämpfe zu lindern, als ihren Theriak.
Als sie an einem Frühlingstag auf die murada stieg, sah sie ein großes Schiff über das sonnenbeschienene Wasser gleiten. Sie konnte erkennen, dass es ein zyprisches Schiff war. Eine Wolke schob sich vor ihre Sonne, und ein kalter Klumpen der Furcht bildete sich in ihrem Magen. Der Handelsverkehr zwischen Venedig und der Welt wurde wieder aufgenommen. Sie spähte in die Ferne und stellte sich vor, wie Palladios Kirche auf ihrer Insel gen Himmel wuchs. Sie wusste, dass sie bald fertiggestellt sein würde. Der Doge würde Annibale nicht mehr brauchen, und die Republik würde ihre Insel zurückhaben wollen.
Am nächsten Tag kam die Badessa zu ihnen in den Kräutergarten, wo Feyra und Annibale den Boden bearbeiteten, weil das Tezon leer stand. Feyra richtete sich auf und presste eine Hand ins Kreuz, als die Badessa, gefolgt von ihren Nonnen, um die Beete herumging.
Annibale stieß seinen Spaten grimmig in die Erde und sah die Äbtissin an. »Ihr geht zurück«, stellte er fest.
»Ja«, bestätigte sie sanft. »Schwester Immaculata war gestern in Miracoli. Das sestiere ist nicht mehr verseucht. Es wird ein neuer Priester kommen, um Vater Orlando zu ersetzen. Ein guter Mann, glaube ich.«
Annibale
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