Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
stehen und drehte sich ein letztes Mal um. »Und wage es ja nie wieder, die Hand gegen mich zu erheben!«
Unvermittelt fing er an, wie von Sinnen auf sie einzutreten – nicht auf ihr makelloses Gesicht, sondern auf ihren Körper, wo die Blutergüsse unter ihrer Kleidung nicht zu sehen sein würden.
Als er endlich von ihr abließ und aus dem Stall stürmte, überwältigte sie das Grauen, und sie begann heftig zu würgen. Im warmen Dunkel konnte sie die Civetta-Pferde schnauben und unruhig tänzeln hören.
Jede Faser ihres Körpers schmerzte, als sie sich aufrichtete, den Hof verließ und quer über die Piazza auf die Kirche zusteuerte. Sie legte die Hände auf die schweren Türen, durch die sie zu ihrer Taufe getragen worden war und die sie später so oft durchschritten hatte – zu ihrer Konfirmation und unzählige Male zur Beichte. Heute Abend hob sie den Riegel jedoch nicht behutsam an, sondern stieß die Eichenholztüren mit solcher Wucht auf, dass sie gegen die Stützpfeiler prallten und zornige Echos durch das Innere der alten Kirche schickten. Pia lief zu der Marienkapelle, wo ihre Beine endlich unter ihr nachgaben und sie auf dem kalten Steinboden auf die Knie fiel. Das Medaillon fest zwischen beide Hände gepresst, betete sie inbrünstig, ohne dabei jedoch den Blick zu den Bildern von Christus und der Jungfrau Maria zu erheben; sie flehte weit ältere Gottheiten um Hilfe an, da sie sich von ihnen mehr Beistand erhoffte. Sie betete, etwas möge geschehen, irgendein Unglück eintreten, das sie aus ihrer misslichen Lage befreite. Als sie die Hände voneinander löste, hatte Kleopatra einen Abdruck auf der einen und die Eule einen auf der anderen Handfläche hinterlassen.
Der Palio
Ein Jahr der Planung, zehn Männer, zehn Pferde, drei Runden um die Piazza, und das ganze, zweimal jährlich in kurzem Abstand stattfindende Schauspiel war innerhalb eines einzigen Moments vorbei.
Kein Außenstehender konnte sich eine Vorstellung davon machen – geschweige denn verstehen –, was der Palio für die Sienesen bedeutete. Dass er sie beim Essen, beim Atmen und im Schlaf beherrschte. Dass sie das ganze Jahr lang jeden Tag zu ihren Heiligen um den Sieg beteten. Dass ihre gesamte Loyalität, ihre Farben und ihre Contrade sich um den Palio rankten wie das Netz um die Spinne. Die konzentrischen Kreise ihrer Sitten und Gebräuche und ihrer Gesellschaft hatten ihren Ursprung in diesem Platz, diesem Tag und diesem kleinsten aller Kreise – die Rennbahn, bedeckt mit dem Staub des Kalktuffs aus den toskanischen Hügeln, über den in Siena geborene Männer auf in Siena gezüchteten Pferden direkt unter den antiken Palästen und Türmen der alten Stadt dahindonnerten. Der Palio war der Mittelpunkt von allem, der Palio war Siena. Wer das verstanden hatte, hatte alles verstanden.
Am 2. Juli 1723, dem Tag des ersten der beiden Palios des Jahres, herrschte in Siena fast unerträgliche Hitze. Trotzdem schien die Menge, die sich versammelt hatte, um einen Blick auf den Palio di Provenzano zu erhaschen, noch größer zu sein als sonst. An anderen Tagen lag die wunderschöne muschelförmige Piazza del Campo so ruhig und friedlich da wie eine leere Jakobsmuschel, aber heute drängten sich hier mindestens tausend Sienesen, die ihre Trommeln schlugen und ihre Fahnen schwenkten. Jeder andere Platz der Stadt war menschenleer; jede Straße, jeder Hof, jedes Gebäude, jede Kirche und jede Schänke verlassen. In den Gerichtssälen hielt sich niemand mehr auf, die Apotheken waren geschlossen, die Geldverleiher hatten ihre Tische weggeräumt und die Schneider die Fensterläden ihrer Geschäfte geschlossen. Im Kirchenspital Santa Maria Maddalena wiesen die Schwestern die Krankenpfleger an, ihre Patienten, sofern es möglich war, auf Tragen zur Piazza zu schaffen. Sogar die Stare bildeten einen Schwarm, um den Palio vom heißen blauen Kreis des Himmels hoch oben über der Rennbahn aus zu verfolgen. Sie schwirrten um die Turmspitzen herum, bildeten rauchfarbene Wolken, die sich kurz darauf wieder auflösten wie Tinte im Wasser, und kreischten dabei vor Aufregung.
Jeder nahm an diesem besonderen Tag den ihm zustehenden Platz ein, von den Ranghöchsten bis hin zum allerniedrigsten Bettler. An oberster Stelle, auf der Empore des großen Palazzo Pubblico mit seinen Terrakottazähnen gleichenden Zinnen und dem hohen Uhrenturm, stand die Regentin der Stadt. Violante Beatrix de’ Medici, fünfzig Jahre alt, farblos und unscheinbar, stand mit Würde
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