Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
und Anmut dem Rennen vor, so wie sie es seit ihrer Ernennung zur Gouverneurin der Stadt nach dem Tod ihres Mannes nun schon seit sechs Jahren tat.
Unter ihr waren die Capitani, die Anführer der teilnehmenden Contrade, in letzte geheime Besprechungen mit ihren Leuten verstrickt. Diese Männer waren die Graubärte, die Oberhäupter ihrer Familien, die jetzt die silbernen Köpfe zusammensteckten. Die Augen in ihren zerfurchten, wettergegerbten Gesichtern hatten schon alles gesehen, und sie kannten die Stadt und ihre Gepflogenheiten besser als jeder andere.
Die in grellbunte Seide gekleideten Fantini, die Reiter, erhielten ihre Nerbi-Peitschen, tückische Schnüre auf straff gespannter Ochsenhaut, mit denen sie in Kürze nicht nur ihre Pferde antreiben, sondern auch auf ihre Gegner einschlagen würden. Diese jungen Männer, die Blüte der sienesischen Jugend, vibrierten förmlich vor Anspannung, ihre dunklen Augen glitzerten freudig erregt. Immer wieder brachen kleinen Vulkanausbrüchen gleichende verbale und auch handgreifliche Streitereien in ihren Reihen aus. Jeder Einzelne hatte sich seit Wochen von seiner Frau oder Geliebten ferngehalten, um sich körperlich wie geistig auf das Rennen vorzubereiten.
Schlecht getarnte Wettsyndikate tauschten über die Köpfe der Menge hinweg geheime Zeichen aus; Straßenhändler versorgten diejenigen, die seit Sonnenaufgang auf dem Platz ausharrten, mit Weinschläuchen und Trockenfleisch; geschäftstüchtige Fächerverkäufer boten Papierfächer in den Farben der teilnehmenden Contrade feil. Die Kapelle stimmte immer wieder die feierliche Palio-Hymne an; eine Aufgabe, die sie bis zum Anbruch des nächsten Tages beschäftigen würde. Jeder Musiker kannte seinen Einsatz und die Noten im Schlaf.
Sogar die kleinen Kinder schwenkten die leuchtend bunten Fahnen ihrer Contrada und versuchten ihren älteren Brüdern nachzueifern, den Alfieri, die prahlerisch herumstolzierten und bei der Hauptparade ihre größeren Fahnen geschickt hoch in die Luft schleuderten. Der kleine Waisenjunge und Wasserträger, der Zebra genannt wurde, weil er die schwarzweißen Farben der Stadt statt denen einer Contrada trug und somit mit niemandem und allen zugleich verbündet war, trottete geschäftig hin und her, reichte den Durstigen hölzerne Becher und nahm dafür Münzen in Empfang. Er bewegte sich leichtfüßig und zielsicher in der brodelnden Menge.
Auch die Pferde schienen dem Ereignis entgegenzufiebern. An ihrem Geschirr flatterten bunte Wimpel und blinkten metallene Anhänger, und ihre Mähnen waren mit Bändern durchflochten. Noch wurden sie von ihren Reitern im Schritt geführt, aber sie wussten, dass sie in Kürze losgaloppieren würden und für das Stadtviertel, dessen Farben sie trugen, den Sieg erringen mussten.
Pia aus dem Geschlecht der Tolomei fühlte sich, als gehörte sie mit einem Mal zu jenen Zuschauern, die den niedrigsten Rang bekleideten. Als verlobter Frau brachte man ihr nicht mehr den Respekt entgegen, den sie erfahren hatte, als sie noch eine begehrte Heiratskandidatin gewesen war – eine stadtbekannte Schönheit, die von den besten Familien der Civetta umworben wurde. Jetzt war sie nichts mehr als eine unbedeutende junge Frau, von der erwartet wurde, dass sie ihrem Verlobten zujubelte und sonst nichts. Aber Pia Tolomei hatte nicht die Absicht, die ihr zugedachte Rolle zu spielen. Ja, sie würde zusehen, wie ihr Verlobter das Rennen bestritt, aber sie würde ihn nicht anfeuern. Stattdessen würde sie darum beten, dass er während des Palio tödlich verunglückte.
Denn heute Abend sollte sie in der Basilika mit Vicenzo Caprimulgo vermählt werden. Heute trug sie zum letzten Mal das Rot und Schwarz der Contrada Civetta. Ihre Blutergüsse wurden von einem gleichfalls in den Farben des Eulenviertels gehaltenen breiten Gürtel verdeckt, der sich um ihre schmale Taille schlang, und ihr schimmerndes schwarzes Haar war unter ihrem Hut zu einer hohen Frisur aufgesteckt. So wie während der vergangenen neunzehn Sommer ihres Lebens und aller Palios, denen sie beigewohnt hatte, saß sie auch jetzt neben ihrem Vater auf den erhöhten Bänken der Eulen-Contrada. Sich dieser Position, ihres Standes und ihrer schmerzenden Rippen allzu deutlich bewusst, bemühte sich Pia, die Tränen zurückzuhalten, denn beim nächsten Palio, dem Palio dell’ Assunta im August, würde sie als Vicenzos Frau auf der anderen Seite des Platzes sitzen und das schwarze und goldene Gefieder der Adler tragen. Sie
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