Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
würde in der Rangordnung dieser Raubvögel bis zur Spitze aufsteigen.
Überall ringsum konnte sie die wachsende Erregung der Menge spüren, nahezu greifbar wie ein Luftzug oder ein Hitzeschleier, doch sie selbst fühlte sich als völlige Außenseiterin. Pia war in Siena geboren und hatte die Stadt kaum je verlassen. Obwohl die Toskana an eine Küste grenzte, hatte sie das Meer noch nie zu Gesicht bekommen. Doch trotz ihres Einsiedlerdaseins in der Abgeschiedenheit ihrer Contrada, trotz neunzehn innerhalb der Stadtmauern verbrachter Jahre empfand sie sich heute zum ersten Mal als nicht dazugehörend. Aufgrund ihrer Verlobung war sie keine Eule mehr, aber auch noch kein Adler, sondern ein seltsames, verkümmertes Vogelzwischending. Eine Missgeburt.
In Siena war jeder Bürger ein Produkt seiner Contrada. Seine Identität begann mit seinem eigenen Viertel und endete dort, wo zum Beispiel die Drachen-Contrada in die der Wölfin oder die des Einhorns in die des Turms überging. Pia war mit den Farben eines jeden Bezirks vertraut, vom Rot und Blau des Panthers bis hin zum Gelb und Grün der Raupe. Und zweimal im Jahr erlangten diese geografischen und farblichen Unterteilungen eine sogar noch größere Bedeutung.
In wenigen Stunden würde sich die Bitterkeit der Niederlage wie aus einem Unratkübel über die geschlagenen Contrade ergießen und überströmende Freude die Einwohner des Siegerviertels erfüllen. Pia wusste, dass Vicenzo heute alles daransetzen würde, zu gewinnen. Bei der Auslosung der Pferde, die einige Tage vor dem Rennen stattfand, hatte er Berio gezogen, einen großen, schönen Kastanienbraunen, von dem behauptet wurde, er sei das schnellste Pferd der Toskana – das Pferd, auf das jede Contrada gehofft hatte. Da Vicenzo als der beste Reiter der Stadt galt, standen seine Siegeschancen mehr als gut. Und wie, überlegte Pia, würde sich sein Triumph dann wohl in ihrem Ehebett zeigen? Nur dieses siebzig Herzschläge dauernde Rennen konnte ihr keusches Leben verlängern. Unwillkürlich erschauerte sie.
In dem Versuch, sich von dem Schauspiel unter ihr fesseln zu lassen, beugte sie sich vor und sah zu, wie Pferde und Reiter den Platz umrundeten. Ihr Blick folgte gewohnheitsmäßig den Civetta-Farben, als ihr ein einzelner Reiter auffiel. Er lenkte sein Pferd langsam und mit absoluter Konzentration durch das Bocca-del-Casato-Tor. Der Bogen des Architravs umrahmte ihn wie einen gemalten Engel.
Pia kannte diesen Mann nicht, doch er war das schönste lebende menschliche Wesen, das sie je gesehen hatte. Er hatte die olivfarbene Haut der Gegend, einen vollen Mund, der jetzt fest und konzentriert zusammengepresst war, aber dennoch Weichheit erahnen ließ, und dunkles, lockiges Haar, das der Tradition des heutigen Tages gemäß mit einem Band in den Farben der Turm-Contrada zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Seine Augen waren gleichfalls dunkel, und seine Züge glichen denen antiker Statuen – in Marmor gemeißelte Perfektion. Sein Körper war gut proportioniert und muskulös, seine Beine lang, und seine Hände hatten sich sanft um die Zügel des Pferdes geschlossen. Aber noch etwas fiel ihr auf: Er besaß die Ausstrahlung eines Edelmannes. Wenn Würde und eine noble Aura mehr von der neuen Wissenschaft der Physiognomie abhingen als davon, in Adelskreise hineingeboren worden zu sein, grübelte Pia, dann sollte er auf der Palastempore über ihrem Kopf sitzen und nicht die hausbackene Gouverneurin.
Während ihrer gesamten Kindheit hatte Pia bei Büchern Zuflucht gesucht, und trotz Vicenzos gestrigen gewalttätigen Ausbruchs glaubte sie immer noch an die höfische Liebe – jetzt vielleicht noch mehr als zuvor. Aber sie wies dem Fremden nicht augenblicklich die Rolle all der Tristans, Lanzelots und Rolands zu, von denen sie gelesen hatte. Sie war zu realistisch um zu glauben, dass irgendjemand von hohem Rang denjenigen liebte, den er heiratete. Dabei waren andere Dinge von Bedeutung.
Dennoch gestattete sie es sich, sich nur einen Moment lang auszumalen, wie es wohl wäre, statt mit Vicenzo mit dem unbekannten Reiter verlobt zu sein. Besser noch – wenn er als ihr edler Ritter für sie in das Rennen ziehen könnte, wie es dem Ideal vergangener Jahrhunderte entsprach, ohne dass sie die sehr realen körperlichen Bedrohungen fürchten musste, die eine Ehe mit sich brachte. Sie würde ihn nicht berühren und ihn schon gar nicht näher kennenlernen müssen. Berührungen bargen Gefahren, wie sie jetzt wusste.
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