Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
es vor, sein Gesicht zu bedecken.
Tatsächlich hatte Annibale zusätzlich zu seinem Arztschnabel noch eine weitere, ganz eigene Maske entwickelt. Einzig und allein, um Frauen – und auch einige Männer – auf Abstand zu halten, legte er ein schroffes Benehmen an den Tag, das ihn stolz und hochmütig erscheinen ließ. Wenn er sprach, geschah dies mit schlecht verhohlener Gereiztheit. Er hatte keine Geduld mit Dummköpfen und war für sein aufbrausendes Temperament bekannt.
Die bittere Wahrheit lautete, dass Doktor Annibale Cason deshalb ein guter Arzt war, weil es ihn nicht wirklich interessierte, wer am Leben blieb und wer starb. Nachdem ihn seine Mutter als Säugling im Stich gelassen hatte und die zahlreichen Tanten, die ihn nacheinander großgezogen hatten, samt und sonders gestorben waren, hatte er keine emotionalen Bindungen mehr an andere Menschen und trotz häufiger Anträge nie geheiratet. Er betrachtete Krankheit als eine persönliche intellektuelle Herausforderung, bei der es fast noch mehr um ihn ging als um seine Patienten, weshalb seine Behandlungsmethoden sehr erfolgreich waren. An der Universität galt er als Mann ohne jegliches Mitgefühl, der ungerührt zusehen konnte, wie ein Baby starb.
Mit dieser Einschätzung taten ihm seine Kollegen Unrecht. Annibale war nicht vollkommen herzlos, doch er zog auch ohne seinen Stock einen kleinen Kreis der Distanz um sich. Diejenigen, an denen ihm wirklich etwas lag, kannten den wahren Annibale. Es waren nur wenige, aber er brauchte nicht mehr.
Padua war eine wohlhabende Stadt, und in seinem letzten Studienjahr, als die jungen Ärzte eigenständig Patienten betreuen durften, hatte er viele reiche Frauen behandeln müssen. Dort, in der Stadt, in der er seine Ausbildung absolviert hatte, hatte ihm die grässliche Maske dazu gedient, ihn vor den Annäherungsversuchen dieser gelangweilten Matronen zu schützen, die von seinem Gesicht so entzückt waren, dass sie verlangten, er solle dicht an ihrem Mund ihren Atem schnuppern oder das Ohr auf ihren wogenden Busen pressen, um ihren Herzschlag zu kontrollieren. Heute, wieder in seiner Heimatstadt, würde die Maske ihren eigentlichen medizinischen Zweck erfüllen.
Annibale konnte sein Glück kaum fassen. Er war in Venedig geboren und aufgewachsen, in der Kirche Santa Maria dei Miracoli getauft worden, ebender Kirche, in der jetzt die Pestglocken läuteten, und er war erst seit einem Tag aus Padua zurück, hatte nur eine Nacht in seinem alten Bett im Heim der Familie verbracht, bevor der Herr die Stadt gestraft hatte. Jetzt würde er endlich das in die Praxis umsetzen können, was er in seinem siebenjährigen Medizinstudium an der Universität, wo er unter den Jahrgangsbesten war, gelernt hatte. Jetzt würde er anwenden können, was er in all den Büchern über Kräuterheilkunde in der Bibliothek gelesen und sich während all der Morgen in den botanischen Gärten und all den Nachmittagen in dem hölzernen Hörsaal angeeignet hatte, wo er seinem geschätzten Mentor beim Sezieren der Leichen wenig betrauerter Verbrecher zuzusehen pflegte.
Sobald er fertig angekleidet war, scheuchte er sein Spiegelbild fort, wie er seinen Diener fortgescheucht hatte, bellte seinem Koch Befehle bezüglich des Abendessens zu und verließ fast beschwingt das Haus. Er fühlte sich wie ein Ritter aus alten Zeiten, der in den Kampf zog. Das Schicksal hatte ihm den tödlichsten Gegner überhaupt geschickt, um seine Lanze an ihm zu erproben. Er, Doktor Annibale Cason, war bereit, es mit der Pest aufzunehmen.
Auf seinem Weg durch die calli bemerkte er, dass sein Feind keine Zeit verloren hatte, um auf dem Schlachtfeld die Oberhand zu gewinnen. Die zahlreichen an die Türen gemalten roten Kreuze, die Kalkkästen an allen Ecken und der Myrtenrauch, der aus jedem Schornstein quoll, verrieten ihm, dass der Schwarze Tod sich schon innerhalb dieser kurzen Zeit fest in der Stadt eingenistet hatte.
Als er am Campo Santa Maria Nova eintraf, wo er seinen Vorgesetzten treffen sollte, fiel es Annibale nicht schwer, Doktor Valnetti zu erkennen, denn dieser war genauso gekleidet wie er selbst. Nur seine Maske unterschied sich in einer Kleinigkeit von der Annibales. Da er zu den sechs obersten Ärzten der sestieri gehörte, war um seine roten Kristallaugen zusätzlich eine schwarze Brille gemalt, ein Zeichen seiner größeren Weisheit und Gelehrtheit. Obwohl Annibale viel von der neumodischen Erfindung der Augengläser hielt, fand er, dass die beiden
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