Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
ihn wirkte er jünger und weniger bedrohlich. Der Wind wehte ihm sein dunkles Haar ins Gesicht. »Jetzt geh.«
Die schwarz gekleidete Gestalt blieb am Tor noch einmal stehen; dort, wo der heilige Sebastian einst sein Schwert in den Boden gestoßen hatte. »Versteck dich gut«, riet er. »Du wirst mich bald wiedersehen.«
Sie sah ihm nach, bis er um die Ecke gebogen war. Über seine Schultern hinweg konnte sie weit draußen auf dem Meer die Il Cavaliere sehen. Ihr Bug wies in Richtung Konstantinopel.
Die nächsten Stunden verbrachte sie zusammengekauert im feuchten Dunkel, den Rücken gegen die kalte Mauer gepresst.
Sie war durchgefrorener als je zuvor in ihrem Leben, und sie konnte sich drehen, wie sie wollte, immer bohrten sich scharfe Steinkanten in ihr Fleisch. Zwei Mal hörte sie während jener Stunden Inselbewohner an ihrem Versteck vorbeikommen. Sie spähte zwischen den Steinen hindurch und sah erst zwei korpulente Wäscherinnen, die sich zum Schutz vor dem Regen ihre Körbe über den Kopf hielten, und dann einen Fischer mit einem Hund. Sie hielt den Atem an, als das Tier geradewegs in das Torhaus getrottet kam und an Timurhans reglosen Füßen schnupperte, bis sie ihn davonscheuchte und er auf einen Pfiff seines Herrn hin davonschoss. Ein leichter Fischgeruch wehte durch die bröckelige Mauer zu ihr herüber und versetzte sie einen Moment lang auf den Fischmarkt in Balik Pazari zurück. Sie blinzelte ins Freie und sah die silbernen Schuppen der Tiere, die der Fischer sich über die Schulter geworfen hatte, in der Abenddämmerung glänzen. Ihr Magen begann erneut zu knurren. Sie hätte beide Fische samt Augen, Eingeweiden und Gräten verschlingen können.
Als es dunkel wurde, musste sie sich mit der Wahrheit abfinden. Takat Turan würde nicht zurückkommen.
Sie erhob sich, weil es jetzt so dunkel war, dass niemand sie mehr sehen konnte, und ging durch den ganzen alten Gebäudekomplex zum anderen Ufer der Insel hinüber. Dort blickte sie zum Mond empor und dann auf den Kristallring an ihrem Finger hinab. Das kleine schwarze Pferd befand sich zuoberst, und sie drehte den Ring, bis es unter ihren Fingern verschwand und das rote Pferd erschien. Sie hatte versagt. Es war ihr nicht gelungen, das schwarze Pferd auf seinem Ritt aufzuhalten, und nun würde sie nie einen Mann namens Samstag finden oder zu einem Haus mit einem goldenen Zirkel über der Tür gehen oder den Dogen persönlich kennenlernen, der unglaublicherweise ihr Großonkel war. All das kam ihr jetzt nur mehr wie eine osmanische Legende vor, ebenso alt wie unwahrscheinlich.
Sie betrachtete die seltsame Stadt jenseits des Wassers, wo nach und nach Lichter hinter den Fenstern aufflammten wie Sterne, als die Bewohner ihre Kerzen und Lampen entzündeten. Und sobald die Menschen ihre Binsenlichter nahmen, um den Weg zu ihren Betten zu erleuchten, würde einem Mann die hektische Röte im Gesicht seiner Frau oder einer Mutter die unnatürlich heißen Wangen ihres Sohnes auffallen, wenn sie ihm einen Gutenachtkuss gab. Und die Morgendämmerung würde dann das Grauen der Pest mit sich bringen.
Teil 2 – Der Vogelmann
12
Doktor Annibale Cason gab sich an diesem Morgen besondere Mühe mit seinem Äußeren.
Da er sich gerade für den Posten des medico des Miracoli- quartiere seiner Heimatstadt Venedig qualifiziert hatte, stand ihm aufgrund seines neuen Status jetzt ein Leibdiener zu, der ihm beim Ankleiden behilflich war, aber er brachte es nicht fertig, stillzustehen und den Mann seine Arbeit tun zu lassen. Es war noch ungewohnt für ihn, sich wie ein Kind anziehen zu lassen. Er zappelte herum oder zuckte zusammen, band ein Band neu oder öffnete einen Knopf, und endlich schickte er den Diener weg und stellte sich allein vor seinen mannshohen Spiegel aus Muranoglas. Heute dienten seine Kleider nicht nur als Statussymbol, sondern dem eigentlichen Zweck, für den sie entworfen worden waren. Es war die Schutzkleidung eines Arztes, und er wollte sie selbst anlegen, denn sie konnte ihm das Leben retten.
Über seine übliche Kleidergarnitur zog er eine lange, geschmeidige Lederhose. Sie ähnelten der, die die Fischer in der Lagune trugen, war aber nicht dazu bestimmt, Meerwasser abzuhalten, sondern andere, weitaus schädlichere Flüssigkeiten. Sie wurde unter seinem Umhang getragen und würde seine Beine und seine Leistengegend vor Infektionen schützen.
Als Nächstes schlang sich Annibale schwungvoll einen langen, schwarzen Umhang um die Schultern. Er zog
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